Depression und Aggression – Machen Depressionen aggressiv?
Ob Depressionen aggressiv machen oder nicht, ist inzwischen eine der meist gestellten Fragen im Internet, wenn es um das Thema Depression geht. Normalerweise vermutet man dies nicht. Steht doch der Begriff Depression eher für eine tiefe Traurigkeit, für Ohnmacht und das Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Die Depression scheint doch eher einer gewissen Starre gleich zu kommen? Nicht selten berichten Depressive von einem Gefühl der Leere, das von ihnen Besitz ergreift und ich selbst kenne all dies natürlich auch.
Versteckte Aggression
Wenn ich mich in einer Selbsthilfegruppe für depressive Menschen umsehe oder mich in einschlägige Foren aufmache, kann ich nicht den Eindruck gewinnen, dass Depressionen aggressiv machen. Nach Aggression sieht mir das dort jedenfalls nicht aus. Der Begriff Aggression kommt aus dem Lateinischen und geht auf das Wort aggredi = heran schreiten, angreifen zurück. Aggressionen sind etwas Kraftvolles, etwas das nach vorn geht. Findet man all dies bei den von der Depression Heimgesuchten? Vermutlich nicht. Und dennoch gehören Aggression und Depression zusammen, wie ich finde. Wenn ich mich selbst anschaue und auch wenn ich Depressive anschaue, die ich ein wenig näher kenne, kann ich ein Muster erkennen. Oftmals wird versucht, die Fassade um jeden Preis aufrecht zu erhalten, doch allmählich wird sie durchsichtig für mich.
Die Fassade durchschaut
Wenn ich die Fassade erstmal durchschauen kann, dann erkenne ich sie ganz deutlich, die verborgenen Aggressionen. Und das soll jetzt keineswegs eine Wertung sein. Zur Bewertung komme ich später. Es geht hier zunächst einmal allein um das Wahrnehmen. Gerade die Fassade, von der ich eben sprach, macht es uns Menschen immer wieder schwer, Aggressionen zu erkennen, auch bei uns selbst, vor allem bei uns selbst. Denn was ich vor anderen zu verbergen versuche, ist etwas das ich zunächst an mir selbst nicht haben will. Deshalb werde ich es auch verdrängen, so gut ich nur kann. Ich will es nicht sehen und was ich nicht sehen will, das sehe ich dann irgendwann tatsächlich nicht mehr. Ich werde blind dafür.
Der blinde Fleck
Jeder kennt den Begriff des blinden Flecks in diesem Zusammenhang. Um es einmal besonders krass zum Ausdruck bringen zu wollen: Wer bereit ist, sich selbst zu töten, ist dessen Aggression noch steigerungsfähig? Menschen mit Depression tun nicht selten genau dies. Weit über 100.000 Personen taten es im Jahr 2012 allein in Deutschland (Quelle: Suizidprävention). Etwa jeder Zehnte von ihnen hatte „Erfolg“ damit. Das ist vermutlich nur der Gipfel eines gewaltigen Aggressionsberges inmitten unserer smarten Gesellschaft.
Trau dich zart zu sein
Aggressionen sind nicht erwünscht in unserer Zeit. Allerorts werden wir eher zur Sanftmut aufgefordert, selbst in der Werbung. Schon als Kind wurden wir für unsere Aggression bestraft. Das Kuriose daran ist nur, dass diese Strafen dann meist auch Formen einer Aggression unserer Eltern oder Erzieher waren. Vermutlich erreichten sie so ihr Ziel nicht. Eher führte dies noch zu einer Festigung des eigentlich unerwünschten aggressiven Verhaltens.
Aggressionen will niemand haben
Stimmt das so? Müsste der Slogan eines bekannten Schokoladenherstellers nicht heißen: Trau dich einmal, aggressiv zu sein? Ist es nicht das, was unserer Gesellschaft gut tun würde? Wenn sie doch ohnehin da ist, die Aggression, wenn wir sie doch alle in uns tragen, wäre es dann nicht besser, sie in einem offenen Umgang miteinander zu kultivieren, anstatt sie vor uns und der Welt, mit nebenbei bemerkt mindermäßigem Erfolg, verbergen zu wollen? Könnten wir womöglich aus dem Blickwinkel der Evolution auf Terror und Krieg verzichten, wenn wir unsere Aggression nicht länger outsourcen würden?
Projektion aggressiver Gefühler
Wenn ich mir das Angebot im Fernsehen so anschaue, zeichnet sich ein interessantes Bild für mich. Aktion, Thriller, Horror, Krimi – es gibt nicht wenige Genres, die sich auch dem Thema Aggression verschrieben haben. Boxkämpfe, Wrestling, Stierkämpfe, Hahnenkämpfe – es sind die Menschen, die danach lechzen. Es sind Menschen, die sich diese Filme und Kämpfe ansehen. Und warum wohl tun sie dies? Weil sie bewusst oder unbewusst spüren, dass auch sie über Aggressionen verfügen. Das Erleben im Außen spiegelt wider, was in ihrem Inneren ist. Und so projizieren sie jene Gefühle, die sie sich selbst nicht erlauben, auf Andere, auf Filmhelden, auf kämpfende Tiere, auf Kämpfer im Ring.
Wo ist deine Wut?
Die Aggression ist ein Thema, bei jedem von uns, nicht nur bei Depressiven. Vielleicht sind wir Depressiven es aber, die besonders versuchen, die Aggression bei sich selbst zu unterdrücken. Sie klingt mir noch immer in den Ohren, diese Frage. Es war eine häufig an Patienten gestellte Frage während meiner Gruppenpsychotherapie: „Und wo ist ihre Wut?“ Die Antwort war fast jedes Mal dieselbe, egal an wen sich diese Frage richtete. Ich selbst antwortete auch so: „Ich bin nicht wütend.“ Und wie ist es wohl mit Gefühlen, die wir zu unterdrücken versuchen? Sie machen uns Druck. Und Druck äußert sich in Wut, in Aggression. Und wenn wir dann auch diese kraftvollen Gefühle noch unterdrücken, kann sich wohl jeder ausmalen, was irgendwann passieren muss…
Aggression oder Depression – Was war zuerst da?
Das klingt wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Eigentlich ist es aber nicht wichtig, die Reihenfolge zu kennen, denke ich. Wichtig ist wohl eher, um den Zusammenhang überhaupt zu wissen. Denn selbst, wenn man heraus fände, dass die Aggression zur Depression führt, was könnte man daran ändern? Jeder Mensch hat Aggressionen. Und was, wenn man nachweisen könne, dass Depressionen aggressiv machten? Man könnte vermutlich weder das Eine noch das Andere verhindern. Und genau darum geht es meiner Meinung nach auch.
Annahme der Aggression
Es geht überhaupt nicht um das Verhindern einer Aggression. Vielmehr geht es darum, diesen Teil der eigenen Persönlichkeit annehmen zu können, ihn bei sich ertragen zu können, ihn ansehen zu können. Es geht darum, Ja zu sagen zur eigenen Aggression, sie sich bewusst zu machen. Nur was mir bewusst ist, kann ich auch bewusst steuern. Alles was ich mir nicht bewusst machen kann, ist trotzdem da, aber entzieht sich vollends meiner Kontrolle. Nur Gefühlen, die ich mir nicht bewusst machen kann, bin ich ausgeliefert, sehe ich mich machtlos gegenüber.
Bin ich aggressiv?
Ob du selbst ständig unterschwellig aggressiv bist, kannst du ganz leicht heraus finden. Überprüfe einfach einmal, wie du auf einen Menschen reagierst, der dir aggressiv gegenüber tritt. Regt sich da etwas in dir? Macht es dich wütend? Gehst du leicht in Resonanz zum Gefühl deines Gegenüber? Wenn dem so ist, hast du etwas über dich erfahren. Es ist nicht die Aggression des anderen, die du spürst, es ist deine ureigene.
Aggression bedeutet Verletzung
Was wir allerdings nicht sehen können, wenn wir selbst aggressiv reagieren, ist dass unser Gegenüber gerade verletzt ist. Wir sehen nicht seinen Schmerz, wir sehen nicht seine Kleinheit, wir sehen nicht das weinende, tobende Kind in ihm. Was wir hingegen sehen, ist eine riesengroße Bedrohung. Und darum müssen wir uns sofort wehren, müssen uns verteidigen, am besten den ersten Schlag setzen. Das schwächt den Gegner. Wenn Menschen aggressiv reagieren, ist es immer das Kind in ihnen, das gerade hilflos ist.
Das schreiende Kind
Es ist das Kind in ihnen, das schreit. Es schreit nach Aufmerksamkeit, nach Gerechtigkeit, nach Liebe, aber gewiss nicht nach noch mehr Schmerz. Davon hat es gerade schon selbst genug. Eine heilsame Methode wäre es, diesem Menschen dann mit Liebe und Verständnis entgegen treten zu können. Das ginge aber nur, wenn ich mich nicht selbst schon auf dem Pfad der Aggression befände. Dazu müsste ich gelassen bleiben können. Ich müsste mir Empathie erlauben, beim Anderen sein, gucken was er jetzt gerade bräuchte. Dazu müsste ich mit den Augen eines Liebenden schauen können. Wenn ich selbst aggressiv bin, ist das leider kaum mehr möglich.
Aggressionsverschiebung
Und warum bin ich dann sofort auch aggressiv? Ich denke, weil ich es mir an den Stellen nicht erlaube, wo es hingehörte, aggressiv zu sein. Ich unterdrücke meine Aggressionen nach allen Regeln der Kunst. Wenn mich dann einmal jemand durch sein aggressives Verhalten „einlädt“, mich zu wehren, kann ich dieser Versuchung offenbar nicht widerstehen. Und so verlaufen viele Auseinandersetzungen ohne ein konstruktives Ergebnis. Es kommt zum Schlagabtausch, aber es gibt keinen Gewinner. Am Ende hat jeder verloren und fühlt sich dann auch so.
Aggressionen kultivieren
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in denen Menschen es sich erlauben können, zur Aggression „Ja“ zu sagen. Ich wünsche mir Menschen, die ihre Aggression als eine göttliche Kraft verstehen können, als eine Gabe, die ihrem Leben zu dienen vermag. Nicht die Aggression per se ist schlecht. Schlecht ist, dass wir uns dafür verurteilen, gegenseitig aber auch selbst. Wir werten uns dafür ab, halten uns für die schlechteren Menschen und schätzen andere, die uns aggressiv begegnen ebenso ein.
Schlechte Menschen
In Wahrheit aber gibt es keine schlechten Menschen. Es gibt nur Menschen. Und oftmals ist es so, das diejenigen, die sich ihrer Anteile nicht bewusst sind, das meiste Leid in die Welt bringen. Schlechter sind sie deswegen nicht, schlechter wurden sie womöglich einst behandelt.
Ich wünsche mir eine Kultur des offenen Umgangs mit der eigenen Aggression und wünsche mir vor allen Dingen, dass ich dies bei mir selbst gut hin bekomme. Denn wäre die Aggression nicht auch mein großes Thema, könnte ich hier wohl kaum eine Stunde lang darüber schreiben…
Die eigene Aggression schätzen lernen
Ich denke, es kommt darauf an, die eigenen Aggressionen aus der Schmuddelecke der Seele heraus zu holen, sie anzuschauen, sie anzunehmen, sich zu ihnen zu bekennen. Die Aggression ist nichts Schlechtes. Nur unkontrolliert ausagiert, kann sie Schlechtes vollbringen. Wer sich seiner Aggression bewusst ist, kann sie auch kontrollieren und konstruktiv einsetzen. Wir Menschen brauchen diese Triebkraft, um vorankommen zu können im Leben. Ohne ein gewisses Maß an Aggressivität bleiben wir stecken im Dschungel der Schwierigkeiten. Aggression bedeutet doch (wir erinnern uns) Antrieb, nach vorn zu gehen. Aggression bedeutet Kraft, Willen, mit Biss an eine Sache heran zu gehen. Sie steht für ein Setzen und Verteidigen von Grenzen und unmissverständlich auch für den Willen zum Leben.
Aggression ist etwas Gutes
Aggression bedeutet Bewegung, lässt uns auf etwas zu gehen, an etwas heran treten. Ohne ein gewisses Maß an Aggression wären wir kaum in der Lage, komplexere Probleme zu lösen. Die Aggression an sich ist etwas Gutes für uns Menschen, aber wie bei vielen anderen Dingen auch, kommt es immer darauf an, wie und wofür man sie einsetzt. Nur der aktive Mensch ist in der Lage, sein Leben positiv zu gestalten und hierzu bedarf es nun einmal auch seiner Aggression. Sie ist eine Form von persönlicher Stärke und ich denke wir tun gut daran, dies auch für uns zu erkennen und wert zu schätzen.
Quellen zu „Machen Depressionen aggressiv?“
https://suizidpraevention.wordpress.com/suizide-in-deutschland-2012 Foto: pixabay.com
veröffentlicht: 07.05.2015 überarbeitet: 29.07.2018