Urteil und Rechtfertigung

Urteil und Depression

Einmal ehrlich – wer ist schon völlig frei von Urteilen? Wir alle kennen sie. Wir urteilen und wir werden beurteilt, verurteilt und nicht selten auch vorverurteilt… So geht das ein Leben lang. Kaum ein Mensch dürfte frei von Urteilen sein. Aber wissen wir eigentlich auch, welchen Preis wir dafür zahlen? Was hat es zur Folge, wenn wir urteilen? Was vor allen Dingen, hat es mit uns selbst zu tun? Wie beeinflusst unser Urteil über einen Anderen unser eigenes Leben und könnten wir daran vielleicht etwas ändern?

Ein UR-TEIL teilt etwas, trennt etwas ab. Ein Urteil hat weitergehende Folgen, als uns dies oftmals bewusst ist. Der heutige Beitrag geht der Frage nach dem Sinn oder Unsinn von Urteilen nach und stellt am Ende den Zusammenhang zur Praxis der Rechtfertigung her. Menschen sind oft sehr gefangen in einer Welt aus eigenen und fremden Urteilen. Die vielfach ersehnte Freiheit können sie jedoch vermutlich nicht erlangen, solange sie nicht auch frei von Urteilen sind…


Freiheit ist frei von Urteilen

„Denn wenn Aufmerksamkeit da ist, wenn ein Gewahrsein da ist, in dem keine Wahl, kein Urteil ist, nur Beobachtung, dann werden Sie sehen, dass Sie nie wieder verletzt sein werden, und die vergangenen Verletzungen sind weggewischt.“ 


Jiddu Krishnamurti

Leider sind wir Menschen nicht frei von Urteilen. Mehr oder minder wird unser Leben und Zusammenleben davon bestimmt. Von klein auf wurden wir beurteilt, waren wir brav oder ungezogen, freundlich oder frech, bescheiden oder gierig, faul oder fleißig, ehrlich oder verlogen, großzügig oder geizig. Wir waren nachtragend oder versöhnlich, ausgleichend oder provozierend, offen oder verschlossen, klug oder dumm, hilfsbereit oder egoistisch. Man nannte uns geschickt oder tolpatschig, sportlich oder ungelenk, begabt oder durchschnittlich, schön oder hässlich.

Die Welt ist voller Urteile. Die Welt und die Menschen einzuteilen, scheint etwas Uraltes, etwas uns Menschen innewohnendes zu sein. Oder wurde es uns im Laufe unseres Lebens nur eingepflanzt? Haben wir als Kind etwa nur gelernt, die Welt in Gut oder Böse zu unterteilen, in Schwarz oder Weiß? Kinder lernen das meiste durch Imitation. Sie hinterfragen zunächst nicht. Sie passen sich an ihr Umfeld an und tun dies stets mit größtmöglichem Gewinn. Wenn also unsere Väter und Mütter schon urteilten, so wie es deren Väter und Mütter einst taten, welche Chance haben wir Menschen da? Bleibt es etwa den großen Philosophen vorbehalten, diesem geistigen Gefängnis zu entkommen? 

Selbstverurteilung

Nicht nur die Welt und andere Menschen teilen wir auf und durch unser Urteil ein. Jedes Urteil teilt auch etwas in uns selbst. Es teilt uns. Wir können nicht eins sein, solange wir urteilen. Urteilen wir über andere, urteilen wir unbewusst auch immer über uns selbst. Zu urteilen heißt, nicht annehmen zu können, was noch da ist. Urteile sind trennend. Im Urteil trennen wir uns von Situationen, von Menschen, von uns selbst. Insbesondere verurteilen wir das, was wir an uns selbst nicht dulden können, was aber da ist.

Warum urteilen Menschen?

Wir haben gelernt, auf die Bewertung anderer Menschen zu hören und haben ihr Urteil zu unserem eigenen gemacht. So haben wir zum Beispiel gelernt, dass es gut ist, hilfsbereit, freundlich, fleißig und bescheiden zu sein. Wir haben ebenso gelernt, dass es nicht so gut ankommt, egoistisch, frech, faul oder gierig aufzutreten. Also versuchten wir irgendwann, diesem Bild zu entsprechen, weil wir glaubten, es brächte uns Vorteile ein. Und so begannen wir, bestimmte Eigenschaften an uns zu verurteilen.

Wir fingen damit an, die jeweils andere, in unseren Augen einzig wünschenswerte Polarität zu verstärken und verloren so das Ungewollte mehr und mehr aus den Augen. So sehr sind wir darauf fixiert, unserem Selbstbild entsprechen zu wollen, dass wir irgendwann überhaupt nicht mehr sehen können, dass all diese Eigenschaften, die wir nicht an uns haben wollen, dennoch zu uns gehören. Wir wurden blind dafür.

Blind für sich selbst – Sehend bei anderen

Und je blinder wir für uns selbst werden, umso aufmerksamer registrieren wir eben diese Eigenschaften bei anderen Menschen. Und ganz klar, wir verurteilen diese Menschen dafür. Wie können sie nur! Die Palette hierfür ist riesig. Möge jeder für sich selbst überprüfen, was er beim anderen offen oder still verurteilt. Vielleicht ist es ein lässiger Kleidungsstil, eine Frisur oder dass er einen Hut trägt? Vielleicht mögen wir seine Ausgelassenheit nicht oder sein „Spießertum“? Womöglich stört uns seine Kleinlichkeit oder sein Geltungsbedürfnis, sein Umgang mit Geld oder sein Aussehen.

Was auch immer wir finden auf dieser Entdeckungstour – es hat mit Sicherheit mehr mit uns selbst, als mit diesem anderen Menschen zu tun. Wenn wir bereit sind, einmal mit anderen Augen hinzuschauen, wenn wir bereit sind,  uns dem Gedanken zu öffnen, dass wir im Außen nur das erleben können, was gerade auch in uns ist, dann ist es eventuell möglich, dass wir uns ein Stück weit auf uns selbst zu bewegen.

Wenn wir bereit sind, der Wahrheit über uns selbst ins Auge zu sehen und durch den Schmerz der Erkenntnis hindurch zu gehen, dann kann der Gewinn in der Tat immens sein. Dann nämlich können wir uns selbst kennen lernen, können uns begreifen, können uns annehmen und können dann, und zwar erst dann, auch zu mehr Selbst-Bewusstsein finden.

Warum rechtfertigen wir uns?

Wenn wir uns verurteilt fühlen, gehen wir gern in die Rechtfertigung. Sich zu rechtfertigen ist aber nur ein mehr oder minder hilfloser Versuch, die von uns gewünschte Außenwirkung aufrecht zu erhalten. Rechtfertigung empfinde ich meist als ziemlich anstrengend, zumal mir doch in der Regel recht schnell deutlich wird, dass ich mein Ziel auf diese Weise nicht erreiche. Und so verstärkt sich am Ende nur das Gefühl, das mich in die Rechtfertigung hinein führte, das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Urteil und Rechtfertigung sind Geschwister

Wenn ich mich rechtfertige, mache ich mich abhängig vom Urteil anderer. Ich verfüge dann selbst nicht über genügend innere Stabilität, über Eigenliebe, Selbstannahme und Selbst-Bewusstsein. Umgangssprachlich wird Selbstbewusstsein oftmals auf eine Art innere Stärke reduziert. Aber im eigentlichen Wortsinne meint Selbstbewusstsein nur, sich seiner selbst bewusst zu sein, sich selbst zu kennen und angenommen zu haben und zwar mit allen Polaritäten und nicht nur mit den vermeintlich guten Seiten.

Urteilsfrei leben heißt frei leben

Urteile mauern uns ein. Urteile machen unfrei. Sie lassen uns die Welt und das Leben nicht mehr so wahrnehmen, wie es ist. Sie beschneiden die Fülle allen Seins und so beschneiden sie auch die Fülle in unserem eigenen Leben und Erleben. Es ist egal, wie wir es anfangen. Wir können damit aufhören, andere Menschen für ihr Anderssein zu verurteilen.

Wir können aber auch damit beginnen, jene Eigenschaften an uns zu lieben, die wir bislang eher ablehnten. In der liebevollen Annahme dessen, was da ist, kann sich unser Herz öffnen und wieder bereit werden für die Fülle und Schönheit des Lebens. Je mehr der Blick unseres Herzens durch Urteile verengt wurde, umso armseliger und kleiner ist unser Leben geworden, hat womöglich schon längst seinen Glanz verloren, seinen Esprit, seine Einzigartigkeit.

Wir haben uns angepasst im Urteil und schließlich auch im Erleben der Wirklichkeit und stimmen zu, wenn gejammert, gemeckert und schwarz gesehen wird. Und so reihen wir uns ein in die große graue Menge der Alltagsverdrossenen und glauben, dass die Welt tatsächlich so sei, wenn sie doch von so vielen Menschen auf diese Weise wahrgenommen wird. Wir sehen, was wir erwarten.

Wahr ist für mich was ich für wahr halte

Wir nehmen wahr, was wir für wahr halten. Unser Urteil bestimmt zu großen Teilen unsere Wahrnehmung. Das Urteil engt die Wahrnehmung ein. Unser Urteil ist eine reine Verstandesleistung. Irgendwann haben wir den Denker in uns damit beauftragt, Beispiele für unsere Sicht auf die Welt zu beschaffen. Und seither erfüllt er beflissentlich diese Aufgabe.

Das Gute an unserem Verstand ist nur, dass wir nicht allein unser Verstand sind. Wir können uns entscheiden, ihm andere Aufgaben zu stellen, indem wir beginnen, uns anderen Wahrheiten zu öffnen. Und so könnte allein die Vorstellung, dass wir jeweils immer beide Polaritäten in uns tragen und diese auch brauchen, diese zu uns gehören und uns ganz, heil werden lassen, unsere Sicht auf die Welt revolutionieren.

Ich denke, es ist an der Zeit, heimzukehren und dort zu kehren, vor der eigenen Tür. Es ist an der Zeit, nach Hause zu kommen und all die Eigenschaften zu begrüßen und in den Arm zu nehmen, die wir bislang nicht an uns oder anderen Menschen haben mochten. So können wir vereinen, was zusammen gehört. So können wir das Gefühl der inneren Trennung, der inneren Zerrissenheit, der inneren Spaltung überwinden und auch den damit verbundenen Welt- oder Lebensschmerz. Es ist gut, wie wir Menschen sind. Es ist nicht immer gut, was wir tun. Doch könnten wir unser Tun besser kontrollieren, würden wir wissen, wie wir sind. Urteile trennen uns hierbei nur von der Wirklichkeit und verhindern, dass wir im Einklang mit uns selbst leben.

Die Trennung aufheben

Im Einklang mit sich selbst zu sein, scheint mir inzwischen das höchste Glück. Das Glück aber suchen wir überall, fordern es täglich heraus, versuchen es zu finden, zu kaufen, zu sichern, zu versichern, versuchen es zu verfolgen, zu binden, zu halten… Und doch zeigt es sich uns nur flüchtig und ist fast ebenso schnell entschwunden, wie es sich kurzfristig einstellte. Diese Art von Glück macht uns nicht wirklich glücklich. Wenn ich es nicht schaffe, das Glück in mir selbst zu finden, werde ich es da draußen in der weiten Welt auch nicht erhalten.

Es wird sich als flüchtig und brüchig erweisen, wird mir durch die Finger rinnen wie Asche und vom Wind des Lebens hinweg getragen werden. Ich denke, ein Urteil nützt letztlich niemandem. Es errichtet Mauern, die einschränken. Sich diesem Gedanken zu öffnen, kann heilsam sein, kann unser Leben von Grund auf verändern…

„Denn wenn Aufmerksamkeit da ist, wenn ein Gewahrsein da ist, in dem keine Wahl, kein Urteil ist, nur Beobachtung, dann werden Sie sehen, dass Sie nie wieder verletzt sein werden, und die vergangenen Verletzungen sind weggewischt.“ Jiddu Krishnamurti

Quellen zu „Urteil und Rechtfertigung“ 
Foto: pixabay.com 

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