Völlig erschöpft – May zieht die Notbremse
Zuviel ist zuviel, heißt es. Bei anderen sehen wir das zumeist schnell, doch fürs uns selbst sind wir blind. Oftmals quälen sich Betroffene völlig erschöpft durch ihr Leben, funktionieren Tag für Tag, gehen immer wieder bis an ihre Grenzen und viel zu oft auch darüber hinaus. Weil sie befürchten, geschmäht zu werden für ihre vermeintliche Schwäche, verbergen sie alles, so gut sie können. Auch glauben sie nicht daran, dass ihnen jemand helfen könnte. Doch das muss nicht so sein. In diesem Leserbeitrag erzählt May, wie es ihr erging mit der Depression und was sie an ihre Grenzen brachte. May berichtet, wie es sich anfühlte, völlig erschöpft zu sein, wie sie Hilfe erfuhr und wo sie heute steht. Vielen Dank für diesen Beitrag, May!
Völlig erschöpft – Der Akku leer
Vor eineinhalb Jahren war mein Akku völlig leer, als ich eines Morgens nicht mehr denken konnte und mich wie ein Roboter bewegte und sprach. Was war passiert? Okay, mein Sohn war wieder krank (zum 30. Mal im Schulhalbjahr), diesmal mit einer verheerenden Diagnose, und der Grübelkreislauf startete: Wie soll er jemals selbständig werden? Er ist seit 15 Jahren krank, am schlimmsten ist sein ADS, das ständige Erinnerungen fordert. Deshalb lernte er auch erst später, wie man lernt, war dafür nie zugänglich und seine Lehrer und Mitschüler haben nichts ausgelassen, damit sich das Kind anders fühlt.
Meine Erfahrungen im Gesundheitsbereich ermöglichten jedoch die Ausdauer, den Mut und die Konsequenz, ihm Entwicklung zu ermöglichen und für ihn überall wie eine Löwin zu kämpfen.
Es war normal, mich um ihn zu kümmern, schließlich arbeitete ich selbst in helfenden Berufen. Und das immer noch gern. Allerdings blieben bei ihm Erfolgserlebnisse aus. Ich war ratlos und hilflos, gab es auch niemanden, den ich fragen konnte. Ehemalige Freunde meinten, es sind Erziehungsfehler (unglaublich, wenn doch Depressionen des Kindes durch seine chronischen Erkrankungen diagnostiziert wurden), mit einer Beharrlichkeit, die mir die Luft zum Atmen nahm.
So war ich überall beschäftigt: vom Elterntelefon bis zur ADS-Selbsthilfegruppe, nichts ließ ich aus, um die Situation zu verbessern. Bei der Arbeit erholte ich mich vom anstrengenden Alltag mit meinem Sohn und zugegeben – zu Hause arbeitete ich oft weiter (der Beruf brachte das mit sich) und erholte mich dort vom lärmenden Arbeitstag.
Nach einer Mutter-Kind-Kur kam ich weinend zurück, meine Hausärztin riet mir zur ambulanten Therapie. Obwohl ich schon 3 Jahre alle 4 Wochen zum Coaching ging, mein Arbeitsverhalten anpasste und mich reflektierte. Ich mochte meine Arbeit sehr, aber oft war sie mir zu anspruchslos und gleichzeitig wegen der häufigen Einsätze zu anstrengend.
Ich fand eine Therapeutin, die meinen Lebensweg 3 Jahre begleitete. Frauen gegenüber war ich immer skeptisch, hatte ich doch sehr schlechte Primärerfahrungen. Die Therapeutin brachte alles ein, was ich mir wünschen konnte: empathisch, vorausschauend, informiert, fachlich up to date, vielseitig in ihren Methoden (z.B. aus der Traumatherapie) und immer stützend hab ich sie erlebt. Manchmal bekam ich einen Kaffee bei ihr, wohl sah sie mir an, dass ich völlig erschöpft war.
Und immer wieder tauchten neue Hindernisse auf, die therapeutisch Raum brauchten. Sie stützte mich und bemerkte zugleich, wie anstrengend mein Leben war. So etwas hatte sie noch nie erlebt: eine fortlaufende Kettenreaktion an Problemen über Jahre…. Irgendwann meinte sie, es wären Medikamente angebracht und empfahl mir eine Psychiaterin. Ich vertraute ihr und fand eine sehr gute Ärztin: anfangs arbeitete ich mit einer kleinen Dosis Antidepressiva Citalopram weiter, als das nicht mehr half gab‘s ein anderes (Valdoxan). Meine chronischen Schmerzen wurden mit Amitrptylin in Schach gehalten.
Bei den ständig neu auftauchenden Problemen musste die Dosis erhöht werden, bis das nicht mehr ausreichte. An dem Tag, an dem der Akku völlig leer war, begab ich mich vollends in therapeutische Hände. Ich hatte keine Kraft für Misstrauen. Meine Psychiaterin ist Gold wert: Sie ist selbst Mutter und kannte meine Vorgeschichte als Alleinerziehende mit krankem Kind. Sie zog mich aus dem Verkehr, reagierte sofort, wenn es mir schlechter ging. Jederzeit konnte ich anrufen und immer wurde mir geholfen. Als es mir nach Wochen kaum besser ging, obwohl die Medikamente am Anschlag waren, besprach ich mit ihr die Möglichkeit, mich stationär behandeln zu lassen und schlug (nach vorheriger Recherche) ein Privatkrankenhaus vor, das nicht konzerngeleitet ist. Wir besprachen offen die Optionen und ich wartete 3 Monate auf einen Platz.
Nach einigem Organisatorischen fuhr ich in die Klinik, die mir sehr gut getan hat. Das Konzept ging voll auf und ich lernte sehr viel über mich. Die Bezugspflege war Extraklasse, ich konnte mich immer (!) auf ein Gespräch und praktische Hilfe verlassen. Die Therapeutin war sehr einfühlsam, die Ärztin auch. Die Physiotherapeutin behandelte jeweils die schmerzintensivsten Areale, das tat mir so gut. Kunsttherapie war eine Quelle zu verschütteten Gefühlen, zu Ehrlichkeit mir selbst gegenüber. Der Pastor war eine große menschliche Hilfe bei Schuldgefühlen und der Musiktherapeut immer entlastend.
Nach 11 Wochen fuhr ich um Erfahrungen reicher, aber immer noch erschöpft nach Haus. Im Gepäck: Familientherapie, die uns bewilligt wurde und jede Woche zu uns nach Hause kamen. Sie entlasteten mich und boten sich meinem Sohn an. Seine Schutzmauer hat er nach 8 Monaten abgebaut, wir lernen einen neuen Umgang miteinander. Ich lasse los, kontrolliere kaum noch, er ist zugänglicher, wir finden zueinander.
Nach 12 Monaten Krankheit musste ich zur Reha, „erpresst“ von der Krankenkasse- sie drohte mit Streichung des Krankengeldes, falls ich mich weigere. Ich versuchte mich vorab so gut es ging, zu stabilisieren.
Die Reha war ein Alptraum, viel zu belastend, viel zu viele Menschen, fehlende Therapieangebote und überfordernd wegen der Menschenmassen überall. Die Mahlzeiten musste im riesigen Speisesaal eingenommen werden, das war unerträglich. Litt ich sowieso an Reizüberflutung, ab 3 Personen wird’s sehr eng für mich, war dies hier absolut kräftezehrend…
Ich beantragte irgendwann Erwerbsunfähigkeitsrente.
Arbeitsunfähig wurde ich aus der Reha entlassen, mit dem Hinweis, eine Tagesklinik aufzusuchen. Wieder zu Hause erholte ich mich nur sehr langsam von den Anstrengungen. Und klärte die Ursache von neuen Symptomen. Familientherapeuten und mein (neuer) Verhaltenstherapeut stützten mich so gut es ging, bis es losging. In der Tagesklinik hatte ich wieder das Glück auf sehr gute Pflegende und Therapeuten (inkl. Ärzte) zu treffen. Meine Skepsis, was ich dort Neues lernen konnte, löste sich mit dem ersten Therapieplan auf. Ich lernte mich selbst noch besser zu verstehen, mit der Schematherapie Problembereiche zu identifizieren, mich anderen anzunähern, zu öffnen, ich lernte, dass Bewegung mir sehr hilft und ich ein Recht auf Pausen (Achtsamkeit), Rückzug und Geselligkeit habe.
In der Zeit der Tagesklinik musste ich zum Gutachter und beruhigte mich damit, dass ich nur so sein kann, wie ich bin (Bennos Artikel halfen sehr). Wie der Gutachter entschied, war mir tief im Inneren egal. Ich brauchte nur meine Pausen, alle 2 bis 2,5 Stunden. Völlig erschöpft war ich wieder einmal, als ich aus der Gutachter-Praxis kam. Der Arzt wirkte sehr ruhig, schrieb ununterbrochen und ließ nicht durchblicken, was er dachte.
Nach 3 Wochen erhielt ich die Bewilligung: befristet (rückwirkend) für zwei Jahre erhalte ich volle Erwerbsminderungsrente. Ich freute mich darüber, daß ich diesbezüglich nicht kämpfen musste (Widerspruch etc.), erleichtert war ich auch, aber Freude? Das kann man mit einer schweren Depression auch nicht erwarten, dachte ich noch.
Und als ich letztens eine Anerkennung der Behinderung mit 40GdB erhielt, war ich zufrieden. Jetzt konzentriere ich mich auf meine Gesundung und bin sehr dankbar für diesen wundervollen Blog und die vielen freundlichen, kompetenten Therapeuten und Mitmenschen. Ich wünsche jedem das Glück!
Quellen zu „Völlig erschöpft – May zieht die Notbremse“
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