Er zieht sich zurück – Depression und Rückzug

Er zieht sich zurück. Wir alle kennen diesen Mechanismus. Wenn wir verletzt werden oder davon bedroht, verletzt zu werden, ziehen wir uns schon mal zurück. Wir bringen uns in Sicherheit. In Wahrheit sind wir dort aber nicht sicher. Wir finden in uns keine Sicherheit, denn hätten wir sie, würden wir uns jetzt nicht zurück ziehen müssen. Es ist eine Flucht vor mir selbst in der Depression, ein immerwährender Teufelskreis aus Bedrohung und Rückzug, der sich selbst am Leben hält, solange ich nicht bereit oder imstande bin, etwas Entscheidendes zu tun. Erfahre in diesem Beitrag etwas über Rückzug im Rahmen der Depression, das Flüchten nach innen, angreifen oder sich totstellen als Bewältigungsmechanismus…
Er zieht sich zurück – Rückzug als Schutz bei Depression
Er zieht sich zurück, klingt zunächst vielleicht einmal abweisend. Wenn ich mich zurückziehe, möchte ich mich aber eigentlich nur schützen vor unliebsamen Gefühlen. Ich flüchte. Ein Schutz ist das freilich nicht, denn die Gefühle kommen ja nicht von außen, sondern sind in mir entstanden. Eine Flucht bleibt es dennoch. Es ist eine Flucht vor mir selbst. Zumindest ist es eine Flucht vor Anteilen von mir selbst, zu denen ich noch nicht Ja sagen kann. Es ist eine Flucht vor Wünschen von mir selbst, die ich mir noch nicht erlauben kann. Oder es ist eine Flucht vor einem Wesenszug von mir selbst, den ich verurteile. Es ist eine Flucht vor einer anstehenden inneren Auseinandersetzung, der ich mich gerade nicht gewachsen sehe.
Er zieht sich zurück, bedeutet, dass sich ein Gefühl der Überforderung einstellt, nicht selten sogar ein Gefühl der Ohnmacht. Das kann so weit gehen, dass es eine solche Situation sogar als lebensbedrohlich empfunden wird. Für diesen Fall hat uns die Evolution drei Optionen zur Verfügung gestellt während der Depression zu reagieren: Totstellen – Angreifen – Flüchten.
Totstellen – eine Bewältigungsstrategie bei Depression
Als depressiv veranlagter Mensch wähle ich während einer Depression natürlich das Totstellen, sollte man meinen. Schließlich kann ich ja eh keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber das ist wohl eher ein nicht zutreffendes Klischee. Depressive sehen sich oft als Opfer, sehen sich wehrlos, aggressionslos. Lange, lange wollte ich nicht wahr haben, dass ich voller Wut bin, dass permanent Aggressionen in mir ihr Wesen und oft auch ihr Unwesen treiben. Ich verleugnete dies aus Leibeskräften. Vielleicht hat sogar gerade dieser Umstand dazu geführt, dass ich überhaupt in die Depression kam? Heute beobachte ich dasselbe bei anderen Menschen, die sich als Opfer ihrer Umstände sehen, jedweder Aggression unfähig, wie sie meinen. Allein schon diese Grundhaltung erzeugt eine Aura von Aggression, finde ich.
Depression bedeutet Ohnmacht, gefühlte Handlungsunfähigkeit, Sinnlosigkeit. Der depressive Mensch verfügt seiner Wahrnehmung nach nicht mehr über Optionen seines Handelns und Entscheidens. Er weiß nicht, was er noch tun könnte. Er glaubt nicht mehr an sich und die Welt. Es fühlt sich kraftlos, ratlos, hoffnungslos. Es möchte am liebsten nicht mehr da sein, möchte sein „jämmerliches Leben“ beenden, aber auch dafür fehlt es ihm an geeigneten Strategien und so wünscht er sich oftmals nur, einfach einzuschlafen und nie wieder wach zu werden. Er stellt sich tot. Nach und nach stellt er seine Körperfunktionen ein. Er zeigt keine Mimik mehr, seine Augen werden stumpf, seine Lippen stumm, sein Blick geht ins Leere, seine Bewegungen verlangsamen, um irgendwann in Erstarrung überzugehen. Auch verspürt er keine Bedürfnisse mehr, keinen Hunger, keinen Durst. Er will nur noch eines – dass es vorbei geht. Das Totstellen ist für ihn ein Lösungsversuch.
Angreifen als Lösungsversuch
Wer angreifen kann, hat gute Karten, seine Situation zu verändern, denke ich. Jeder Depressive hat auch Aggressionen in sich. Viele von ihnen wollen das freilich nicht wahr haben, weisen es weit von sich, so wie auch ich es lange Zeit tat. Aber allein schon der Umstand, sich selbst so schlecht zu behandeln, dass der Körper die Notbremse ziehen muss – wie viel Aggressionspotenzial ist hierfür nötig? Ganz zu schweigen von den über 100.000 Menschen, die jedes Jahr allein in Deutschland versuchen, ihrem Leben gewaltsam ein Ende zu bereiten. Das ist Aggression pur. Aber frage mal jene, die so mit sich umgehen, ob sie sich denn selbst für aggressiv hielten…
Anzugreifen halte ich noch für die beste Reaktion aus Sicht der Genesung. Angreifen ist viel besser als das Totstellen. Hier kann ich meine Kraft fühlen. Ich erlebe mich handlungsfähig. Hier kann ich meine Grenzen spüren und verteidigen. Auch wenn so manche Reaktion von mir völlig überzogen sein mag und ich meinem Gegenüber Kaum-Aushaltbares zumute, der Angriff ist, scheint mir, das probateste Mittel für einen Depressiven, mit einer für ihn bedrohlichen Situation umzugehen.
Flüchten
Flucht ist ein Muster, das nicht nur in der Depression sehr weit verbreitet ist. Aus Sicht der Evolution ist es auch manchmal klug, sich dem Zugriff lebensbedrohlicher Umstände zu entziehen. Nur greift der Mechanismus des Flüchtens im Falle der Depression nicht, denke ich. Er manifestiert eher noch. Wenn jemand sich zurückzieht, tut er dies, um sich zu schützen. Er zieht sich zurück, ums sich aus der Situation heraus zu nehmen und in Sicherheit zu bringen. Wenn das räumlich nicht möglich ist, tut er es innerlich. Es ist ein Flüchten nach innen während der Depression. Er zueht sich in sich selbst zurück – unerreichbar für die Welt und ein Stück weit auch unerreichbar für sich. Er trennt sich von seiner Umgebung, von der Welt und so trennt er sich auch von sich selbst.
Eine Klärung von Situationen im Außen ist ohne die handelnden Personen eher schwierig. Natürlich kann ich ganz im Stillen für mich schauen, was das alles mit mir zu tun hat, wo meine Anteile liegen, und das sollte ich sogar tun. Aber dann muss ich all dies wieder nach draußen bringen und die Sache ins Reine. Überall dort, wo ich Ungeklärtes zurück lasse, indem ich mich einfach entziehe, bringe ich auch Leid in die Welt, handele ich verletzend und nicht versöhnlich. Ich verletze auf diese Weise andere Menschen, aber auch meine eigenen Seele, füge mir selbst Schmerz zu, indem ich den Zustand der Trennung aufrecht erhalte.
Allein die Flucht vor etwas Unangenehmen beraubt das Unangenehme nicht seiner Existenz. Es bleibt weiterhin bestehen, bleibt in meinen Gedanken und auch in meinen Gefühlen. Es bleibt ungeklärt.
Meister im Flüchten
Wir Menschen sind wahre Meister im Flüchten. So flüchten wir aus Arbeitsverhältnissen, ohne die misslichen Situationen geklärt zu haben. Wir flüchten von einer Beziehung in die nächste, um dort erneut mit denselben Problemen konfrontiert zu werden. Manche von uns flüchten in den Alkohol, in Drogen oder versuchen sich auf andere Weise abzulenken. Wir wandern aus. Wir flüchten uns in Krankheiten wie die Depression und manchmal sogar in den Tod. Wohin wir auch flüchten – wir nehmen unsere Probleme beständig mit, denn sie sind ein Teil von uns, solange wir sie nicht aufrichtig geklärt haben. Wir nehmen unsere Defizite mit und wir nehmen vor allen Dingen auch all das mit, was wir nicht sehen wollen.
Eine Flucht kann dennoch gut sein, denke ich. Kurzzeitig kann sie uns Abstand verschaffen und Gelegenheit zur Selbstreflektion. Sie kann uns helfen, die eigene Position zu überdenken. Flucht kann uns eine Pause verschaffen, eine Distanz, einen klareren Blick. Sie kann uns helfen, Kraft in uns zu finden, um dann wieder hinaus zu gehen und das Problem mit Liebe aus der Welt zu schaffen, denn nur wenn wir es auf diese Weise tun, ist es auch wirklich aus der Welt. Ein Rückzug um des Rückzugs willen, ein Rückzug ohne abschließende Klärung hingegen wird eher destruktiv wirken und die Situation auf Dauer verhärten, verschlimmern, verkrusten…
Fazit zu „Er zieht sich zurück – Depression und Rückzug“
Es sind Mauern, hinter die wir uns flüchten und totstellen während einer Depression. Es sind selbst errichtete Mauern aus Angst, Zweifel, Hoffnungslosigkeit, Schuld, Scham und Enttäuschung. Diese Mauern schützen aber vor allem die Gefühle, durch die sie errichtet wurden. Nur die Liebe zu uns selbst kann heilen. Die Liebe gedeiht aber nicht hinter Mauern. Sie bevorzugt die Freiheit. Das Vertrauen liebt die Nähe und die Hoffnung mag Horizonte. Ein Ort des Rückzugs aber, sollte auch ein Ort dieser Gefühle sein. Als soziale Wesen brauchen wir andere Menschen zum Leben. Dies auf Dauer zu ignorieren, führt unweigerlich ins Abseits. So wie wir keines unserer Bedürfnisse ignorieren sollten (wir kommen ja auch nicht auf die Idee, nicht mehr schlafen oder essen zu wollen), sollten wir uns auch nicht selbst aus dem Netz schneiden, dass uns im Leben hält…
Quellen zu „Flüchten Angreifen, Totstellen, Depression und Rückzug – Er zieht sich zurück“
Foto zu „Depression und Rückzug – Er zieht sich zurück“: pixabay.com
Überarbeitet: 09.01.2024