Verlustangst – Zwei Dimensionen derselben Furcht

Verlustangst

Verlustangst führt manchmal herbei, was sie befürchtet.

Ich denke nicht gern über meine Ängste nach, schon gar nicht über Verlustangst. Dennoch sind sie da. Ich fühle nicht gern in sie hinein. Ängste sind etwas, das mein Leben eng werden lässt. Mein Blick wird eng, meine Wahrnehmung wird eng, mein Aktionsradius wird eng. Ich kann die Welt und mein Leben nicht mehr in seiner ganzen Fülle erkennen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich überwiegend auf das, was mich bedroht oder mich bedrohen könnte. Er richtet sich auf das, was mir weggenommen werden könnte und lässt mich allzu schnell übersehen, was ich doch alles habe.


Arten der Angst

Es gibt viele Kriege, aber nur einen Frieden.

Es gibt viele Krankheiten, aber nur eine Gesundheit.

Es gibt viele Ängste, aber nur eine Sicherheit.   (Benno Blues)

In der Tat gibt es vielerlei Ängste in meinem Leben. Da gibt es in mir diese Versagensangst, also die Angst, etwas falsch zu machen oder falsch gemacht zu haben. Es gibt die Angst, zu verarmen, morgen nicht mehr genügend Geld zum Leben zu haben. Obwohl ich die Erwerbsminderungsrente auf Dauer zugesprochen bekam, befürchte ich, dass man sie mir wieder wegnehmen könnte. Es gibt die Angst, abgelehnt zu werden. Diese Angst erschwert mir den Umgang mit anderen Menschen. Aufgrund dieser Angst versuche ich, zu gefallen und gebe wie automatisch den smarten Schwiegermuttertyp. Aber das bin ich gar nicht. Das ist anstrengend für mich. Das kostet mich Kraft. Nur zu gern würde ich diesen Teufelskreis einmal durchbrechen. Doch diese Angst aus Kindertagen steuert mich regelrecht fern und lässt mich zu einem Menschen werden, von dem ich glaube, dass andere ihn so haben wollen.

Der Witz an der Sache ist, dass ich mir dessen nicht einmal sicher sein kann. Alles läuft völlig subtil ab. Der Benno Blues da draußen ist nicht der Benno Blues in mir. Oder etwa doch?

Verlustangst

Meine größte Angst ist jedoch die Verlustangst. Vermutlich ist die Verlustangst auch der Hauptauslöser meiner Depression. Es scheint eine Art Urangst in mir zu sein, eine Angst die immer da ist. Oftmals glaubte ich schon, ich sei sicher. Ich konnte diese Angst dann nicht spüren, nicht einmal erahnen. Aber im nächsten Augenblick entfaltet sie sich und bläst sich auf zu voller Größe wie ein Ballon. Sie wächst dann über sich hinaus und sie wächst auch über mich hinaus. Sie überdeckt dann alles. Diese Angst ist mein Dämon. Ich habe Verlustangst. Ich habe Angst, verlassen zu werden.

Die Geschichte einer Verlustangst

Das erste Mal muss ich diese Verlustangst wohl schon als Baby gefühlt haben. Ich habe keine Erinnerung mehr daran, kenne die Geschichte nur aus Erzählungen. Es war wohl so, dass ich krank war, so krank, dass ich in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Ich weiß nicht mehr, welche Beschwerden dazu führten, nur dass ich wohl noch nicht einmal ein Jahr alt war. Früher waren die Kinderstationen nicht so kinderfreundlich wie heute, sie waren eher steril. Es gab geregelte Besuchszeiten, damit die kleinen Patienten in Ruhe genesen könnten, wie es hieß. Ich habe meine Eltern bestimmt sehr vermisst. Was wird so ein kleiner Bub wohl fühlen, wenn er nach Mama weint, aber die Mama kommt nicht?

Mein Kindheitstrauma

Später, als ich etwa fünf Jahre alt war, wurde meine Mutter in  ein Krankenhaus eingeliefert. Sie war schwer krank. Sie hatte Leukämie. Als ich sechs Jahre alt war, starb sie und verließ mich auf diese Weise für immer. Ich litt erbärmlich unter diesem Verlust, viele, viele Jahre. Irgendwann lernte ich, zu verdrängen. Der Beginn einer Verarbeitung gelang mir erst mit Ende vierzig, als ich das erste Mal an einer Psychotherapie teilnahm.

Die Wiederholung

Ferner verlor ich meine erste Frau und Mutter meiner vier Kinder aufgrund meiner Depression und später auch meine zweite Ehefrau. Nein Kindheitstrauma wiederholte sich quasi. Die Angst, jemanden zu verlieren verwandelte mich jedesmal in ein erbärmliches Häufchen Unglück. Von außen betrachtet bekam die Verlassensangst so viel Aufmerksamkeit von mir, war so ein großes Thema, dass ich am Ende selbst unbewusst darauf zu arbeitete, dass meine Befürchtungen ja auch wahr würden. Da war dann oft die Rede von mangelndem Vertrauen, von Ängsten, die nicht hierher gehörten, weil es alte Ängste wären, und so weiter. Von Klammern war die Rede ebenso wie davon, nicht verlässlich zu sein.

Fels und Sand

Als ein Fels in der Brandung war ich einst angetreten, aber nach den ersten Stürmen blieb nichts weiter übrig, als ein Häufchen Sand, hinweg gespült von den Wellen des Lebens, den Schwierigkeiten einer Partnerschaft und den Belastungen einer seelischen Erkrankung. Nur ein wenig Sand, an den Strand gespült, gestrandet, eingegangen in den Kreislauf der Natur. Nichts blieb bestehen außer der Erinnerung…

Verlassen werden

Die Angst ist ein mächtiges Gefühl. Nur die Liebe ist noch mächtiger. Bei mir jedoch gewinnt fast immer die Angst. Wieso ist das so? Wie eine selbsterfüllende Prophezeiung passiert immer genau das, wovor ich die größte Angst habe: Ich werde verlassen. Suche ich mir einfach immer nur die falsche Partnerin aus? Aber wieso konnte ich mich dann in meiner ersten Ehe fast fünfundzwanzig Jahre sicher fühlen? Es scheint mir da doch alles etwas komplexer zu sein.

Jemand anderes sein wollen

Neulich sagte jemand zu mir: „Wenn du dich verlassen fühlst, dann weil du dich selbst verlassen hast.“ Ich begriff nicht sofort und lehnte die Aussage zunächst ab, aber sie ging mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder drängte sich mir dieser eine Satz auf: „Wenn du dich verlassen fühlst, hast du dich selbst verlassen.“ Ich fühlte hinein. Ich wog ab und schließlich konnte ich mich irgendwann langsam diesem Gedanken öffnen. Es scheint mir die zweite Dimension derselben Angst zu sein. Es ist, wie ich glaube, sogar die eigentliche Dimension meiner Angst. Weil ich befürchte, verlassen zu werden, beginne ich mich anzupassen. Ich will gefallen, um jeden Preis. Dafür tue ich alles. Ich versuche die Wünsche meiner Partnerin zu erraten, falls sie mir unbekannt sind (und liege damit sicherlich oftmals weit daneben). Ich tue alles, was ihr gefällt und wie es ihr gefällt.

Neue Lieblingsfilme

Ich gebe nach, passe mich an, verschweige meinen Unmut darüber und tue so, als wäre all dies sogar noch mein Wille. Ich trage Kleidung, die ich mir selbst nie gekauft hätte. Mir gefallen plötzlich Autos, die mich bislang nicht interessierten. Ich mache Filme zu meinen Lieblingsfilmen, obwohl es ihre sind, schaue plötzlich liebend gerne Serien und vieles andere mehr. So kopiere ich, dupliziere, ahme nach. Ich strenge mich an, bemühe mich und finde keine Ruhe mehr in dem Bestreben, ganz eins zu werden mit ihr, zu verschmelzen in völliger Harmonie. Ich liebe Harmonie

Wehe wenn der Erfolg ausbleibt

Solange mein Tun hierbei von Erfolg gekrönt ist, soll mir die ganze Anstrengung auch Recht sein, aber wehe der Turm der Glückseligkeit gerät ins Wanken! Dann plötzlich bereue ich, dass ich all dies tat, dass ich mich so anstrengte, mich verzehrte und soviel Kraft investierte. Dann plötzlich werde ich unwillig, ungerecht und beginne zu fordern, mache Vorwürfe, erwarte eine entsprechende Würdigung oder bereue, dass ich so handelte.

Ich hatte mich verlassen

Was ich jedoch bei all dem stets übersah: Niemand wollte je, dass ich so bin. Niemand wollte, dass ich mich so verbiege, verstelle, anpasse. Niemand wollte, dass ich vorgebe so oder so zu sein, nur aus Liebe. Ich war nicht mehr zu erkennen. Und am Ende kannte ich mich selbst nicht mehr. Ich hatte den Kontakt zu mir verloren. Ich hatte mich verlassen. Und erst dann, erst nachdem ich mich selbst verließ, wurde ich auch tatsächlich verlassen.

Kleines Ego – Große Angst

All meine Ängste sind immer dann groß, wenn ich selbst klein bin, wenn ich mich selbst klein fühle, wenn der kleine Junge in mir sich klein, verlassen  und einsam fühlt. Dann jedes Mal fühlt er sich ungeliebt und kein Erwachsener weit und breit ist in Sicht ist, der ihm einen Beistand bieten könnte. Immer dann, wenn auch ich, der erwachsene Benno, den kleinen Jungen immer wieder im Stich lasse, weil ich derweil anderen Menschen hinterher laufe, fühle ich mich verlassen.

Fels in der Brandung

Wenn ich aber bei mir bleibe oder zu mir zurückkehre und den kleinen Benno bildlich in die Arme schließe, wenn ich mich selbst wertschätze, zu mir halte, mich gut finde, stolz auf mich bin, mich liebe, dann fühle ich mich auch nicht klein. Dann komme ich nicht in Versuchung, mich anpassen zu wollen, gefallen zu müssen auf Biegen und Brechen. Meine Züge bleiben erkennbar, meine Konturen sichtbar. Dann bleibe ich erkennbar als der, als der ich einst antrat, als Fels in einer Brandung…

Quellen zu „Verlustangst – Zwei Dimensionen derselben Furcht“
Foto: pixabay 

angst zu verlieren

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