Ich brauche dich

ich brauche dich

„Ich brauche dich! Ich kann ohne dich nicht leben!“ Gerne wohl formulieren es Menschen, die sich lieben, so. Bringt es doch den unmissverständlichen Willen zum Ausdruck, an einer bestimmten Person unbedingt festhalten zu wollen. Diese Formulierung macht einmal mehr deutlich, wie viel einem der Andere wert ist. Sie zeigt, dass einem dieser Mensch ganz besonders wichtig ist, über die Maßen viel bedeutet. Aber ist das auch schon alles? Steckt nicht vielleicht noch mehr hinter solch einer Wortwahl? Ich spüre nach…


Ich brauch dich – Eine Liebeserklärung

Was auf den ersten Blick wie eine wunderschöne Liebeserklärung anmutet, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als die Aussage eines Menschen, der nicht erwachsen werden konnte mit seinen Gefühlen. Noch immer prägt vermutlich eine kindliche Wahrnehmung sein Gesamterleben. Ich kann ohne dich nicht leben! Ich brauche dich! Kinder brauchen die Eltern. Sie brauchen Vater und Mutter oder andere Bezugspersonen, die es gut mit ihnen meinen. Kinder können auf sich allein gestellt nicht überleben. Sie können sich nicht selbst ernähren, nicht kleiden, nicht für Wärme und ein Dach über dem Kopf sorgen. Kinder sind angewiesen. Kinder brauchen…

Die Analyse des Satzes „Ich brauche dich“

Wenn ich sage, dass ich jemanden brauche, dann macht dies deutlich, wie wenig lebensfähig ich mich allein sehe. Ich übertrage die Verantwortung für mein Glück und mein Wohlbefinden auf diese eine Person. Mag sein, dass sich dieser Mensch zunächst davon geschmeichelt fühlt, aber wir wählen unsere Worte nicht ohne Hintergrund. Auch eine scheinbar unüberlegte Formulierung verlässt nicht zufällig unseren Mund, sondern bringt zum Ausdruck, was in uns ist. „Ich brauche dich“, bedeutet, dass ich ohne dich nicht (gut) leben kann. Es ist ein Bekenntnis, ein Geständnis, eine Offenbarung und wohl weniger eine Liebesbezeugung. Liebe fordert nicht. Liebe nährt sich selbst und will sich verschenken. „Ich brauche dich“, bedeutet einmal mehr, dass ich selbst kaum ausreichend Liebe habe, nicht für mich und auch nicht für andere.

Gut, möchte man da meinen, wenn ich nicht genug Liebe in mir habe, dann wohl nur deshalb, weil ich mein Leben lang zu kurz kam in dieser Hinsicht, angefangen in der Kindheit. Ich müsse doch nur Mangel an Liebe einmal richtig von außen auffüllen und alles wäre gut, geheilt für immer. Und so verlockend sich diese Ansicht mir aufdrängt, so trügerisch ist sie am Ende auch. Liebe ist ein Quell, den ich nur aus mir selbst speisen kann. Liebe quillt über, wenn genug davon da ist. Nur ich kann diese Quelle speisen und tue dies aus Selbstachtung, Selbstwert, Selbstannahme, Selbstvergebung, Dankbarkeit und der wichtigsten Zutat: einer gehörigen Portion Selbstliebe.

Was ich selbst für mich zu empfinden nicht in der Lage bin, wird wohl auch niemand anders auf Dauer für mich empfinden können. Ergo, was ich wirklich brauche, ist nicht die Liebe einer anderen Person. Was ich wirklich brauche, ist diese meine eigene Liebe. Sie ist durch nichts zu ersetzen.

Wie man mich behandelt

Die Frage ist also weniger, „Wie gehen andere Menschen mit mir um? Wie behandeln sie mich, liebevoll oder respektlos?“ Die Frage ist, „Wie gehe ich selbst mit mir um? In welcher Beziehung stehe ich zu mir?“ Was mute ich mir zu? Wem mute ich mich zu? Was bin ich mir wert? Was lasse ich mir bieten? Wo ziehe ich meine Grenzen? Für wie kostbar halte ich mich?

Nicht dass es etwas Schlechtes wäre, die Zuneigung anderer Menschen, ja vielleicht sogar ihr Herz zu gewinnen, aber darauf angewiesen zu sein, ist in doppelter Hinsicht destruktiv. Es versetzt mich selbst in eine Position der Abhängigkeit, der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Meinen Gegenüber indes überfordert solch eine Haltung schlichtweg. Niemand kann auf Dauer die Verantwortung für das Wohlbefinden eines anderen Menschen exklusiv übernehmen, ohne sich selbst dabei zu verlassen. Selbstlos zu handeln, so wie es die Kirchen lehren, ist aber nicht gottgewollt, sondern aus meiner Sicht einfach nur dämlich. Selbstlos zu handeln hieße, verantwortungslos zu handeln.

Wer nicht in der Lage ist, Verantwortung für sich selbst an erster Stelle wahrzunehmen, wie kann so ein Mensch, Verantwortung für Dritte tragen? Die Zuneigung eines anderen Menschen erfahren zu dürfen, ist ein großes Geschenk, ist etwas sehr Kostbares. Man sollte es genießen wie ein feines Praliné und nicht danach hungern wie nach Brot. Für das Brot müssen wir selbst sorgen. Es muss aus uns kommen. Erst wenn wir keinen Hunger mehr haben, sind wir des wahren Genusses fähig in all seinen feinen Nuancen. Hungrig hingegen sind wir nur gierig und nicht satt zu bekommen mit hier und da einem feinen Praliné.

Ich brauche dich oder bin frei

Und so süß der Nektar der Liebe auch schmecken mag, sollte er mich doch nicht dazu verführen, alles dafür aufzugeben, schon gar nicht mich selbst. Ich weiß, dass ich genau hierzu neige. Auch weiß ich, dass ich viel zu schnell immer wieder alles auf eine Karte setze, frei nach dem Motto „Ganz oder gar nicht“ und finde es deshalb wichtig, diesem Thema einmal einen eigenen Beitrag gewidmet zu haben.

Ich bin frei. Frei und nicht abhängig. Ich bin unabhängig – finanziell, gesundheitlich, zeitlich, beruflich, gedanklich und was das Wichtigste in diesem Zusammenhang ist, auch emotional. Ich kann selbst bestimmen, wie ich mich fühle. So wie ich über mich und mein Leben, meine aktuelle Situation, denke, so fühle ich mich auch. Es kommt einzig auf meine Bewertung an. Glaube ich, ich brauche die Liebe eines Dritten, um glücklich zu sein, werde ich vermutlich nie wirklich glücklich sein können, weil immer etwas Entscheidendes fehlen wird – die Liebe zu mir selbst.

Halte ich mich hingegen für unabhängig und kann mir selber geben, was ich zum Leben brauche, wird das wiederum sogar anziehend auf Dritte wirken. Es signalisiert Stärke, Zuverlässigkeit, Integrität und Selbst-Bewusst-Sein. Es steht für Ausgeglichenheit, Frieden und Glück. Wer mag sich nicht gern in der Nähe eines solchen Menschen aufhalten? Womit ich mich wohlfühle, können es auch andere Menschen tun. Wenn ich mich liebe, sind auch andere dazu in der Lage. Ich bin, den Kinderschuhen einmal entwachsen, nicht abhängig. Ganz im Gegenteil, ich bin frei und autonom. Ich verschenke meine Liebe, wohin ich will, an erster Stelle aber an mich selbst…

Die Büchse der Pandora

Eine Depression nährt sich von dem Gefühl des Ausgeliefertseins, von Ohnmacht, von Zweifel, von Selbstabwertung. Abhängige Persönlichkeiten sind nicht selten auch depressiv. Sie haben ihre Macht abgegeben. Sie bestimmen ihr Leben nicht mehr selbst, sondern machen ihr Befinden davon abhängig, wie andere Menschen sich verhalten oder nicht verhalten, wie die Sterne stehen, das Schicksal es mit ihnen meint, wie der Staat agiert, die Wirtschaft sich entwickelt, die Zinsen, wie der Alkohol sie beruhigt, das Antidepressivum ihre Stimmung verbessert,  oder oder oder. Und so greifen sie nach jedem Strohhalm, um ja nicht nach der Büchse der Pandora greifen zu müssen, die tief in ihnen vergraben ist.

Sie klären nicht, wo sie im Unfrieden mit sich und anderen Menschen leben, sie heilen nicht ihre Verletzungen aus alten Tagen, sie wollen sich nicht mit sich selbst auseinander setzen. Das kann man so machen. Aber wenn man bei sich selbst nicht bereit ist, etwas zu ändern, dann ändert sich leider auch nichts. Dann bleibt alles beim Alten – ich brauche etwas, kriege es vielleicht sogar das eine oder andere mal, dann aber wieder nicht. Ich bin angewiesen auf das Wohlverhalten anderer, abhängig, unfrei, ohnmächtig. Deshalb liegt der Schlüssel für die Tür aus der Depression heraus eben nicht in der Liebe eines anderen Menschen. Die Liebe kann lediglich Öl im Schloss sein. Der Schlüssel liegt in der Büchse der Pandora und die wiederum lässt sich nur mit ganz viel Eigenliebe öffnen…

Quellen zu „Ich brauche dich“
Foto: pixabay.com

ich brauche dich so sehr

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