Ich bin mehr als die Depression

mehr als die Depression

Ich bin mehr als die Depression

Wenn die Depression zum Thema wird, ändert sich alles. Das ganze Leben gerät ins Wanken. Alles dreht sich nur noch um die Depression. Das ist eine große Belastung sowohl für den Erkrankten als auch für Angehörige und Freunde. Betroffene werden oftmals auf ihre Depression reduziert oder tun dies selbst. Sie sind aber mehr als ihre Depression und es tut ihnen gut, sich ab und zu wieder daran zu erinnern.


Frieden schließen mit der Depression

An die Depression habe ich mich, so doof das jetzt auch klingen mag, inzwischen irgendwie gewöhnt. Vielleicht trug zu diesem auch Umstand bei, dass ich mich über lange Zeit sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt habe? Vielleicht ist es aber auch einfach der Tatsache geschuldet, dass ich nunmehr seit sieben Jahren mit der Diagnose F32.1G – Mittelgradige depressive Episode lebe. Und selbst einige Jahre zuvor war die Depression schon mein Schatten, war ständig bei mir, begleitete mich durch den Tag wie unbemerkt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich auf meine Weise Frieden geschlossen habe, mit dieser Krankheit, mit meiner Krankheit, mit meinem Schicksal, mit mir…

Leben aus dem Mangel heraus

Die Depression ist da und sie gehört zu mir. Ich habe nicht mehr den dringenden Impuls, dass sie auf der Stelle verschwinden muss. Sie ist ein Teil von mir geworden und das wird seine Gründe haben. Ich kann inzwischen damit leben. Heute liegt mein Augenmerk eher darauf, in Erfahrung zu bringen, wie ich trotz Depressionen ein glückliches Leben führen kann. Heute bin ich damit beschäftigt, herauszufinden, was mir gut tut, mir Freude bereitet und mein Leben bereichert. Ähnlich wie in dem Abnehmkurs, den ich derzeit besuche, soll es nicht darum gehen, was ich alles nicht machen soll, um gesund zu leben. Nun soll vorrangig das Thema sein, was mir gut tut und was für mich gesund ist.

Problematisches Selbstwertgefühl

So wie eine Diät ein Leben aus dem Mangel heraus ist, so ist auch die Bekämpfung der Depression ein Leben aus dem Mangel. Wie ich darauf komme? Nun, bei der Therapie der Depression steht die Krankheit über lange Zeit im Mittelpunkt des Lebens. Das ist gut und richtig für den Anfang, Aber ist es auch noch die richtige Vorgehensweise nach Jahren der Depression? Ein Leben aus der Krankheit heraus ist ebenso ein Leben im Mangel. Es mangelt an Gesundheit, an Vitalität, an Lebensfreude. Es mangelt an Motivation, Konzentrationsfähigkeit und der Fähigkeit zu fühlen. Und nicht zuletzt mangelt es an Leistungsfähigkeit, Vertrauen, einem gesunden Selbstwertgefühl und irgendwann vielleicht an der Hoffnung, je wieder gesund werden zu können. Als Depressiver habe ich von Haus aus schon ein eher geringes Selbstwertgefühl, aber durch die ständige Bewusstmachung, dass ich depressiv bin, krank bin, insbesondere „psychisch krank“ bin, schrumpft es geradezu erst richtig dahin.

Bin ich der Depressive von nebenan?

Ich bin doch mehr als die Depression, oder? Es gibt da so viele Ressourcen, Fähigkeiten, Charaktereigenschaften, Persönlichkeitsanteile, Wünsche, Ideen und Fertigkeiten. Ich habe eine Geschichte, eine Lebensgeschichte, die prall angefüllt ist Erlebnissen, Erkenntnissen und Erfahrungen. Ich bin so viel mehr als die Depression und die Angst, die dahinter steht. Sicher, es gab eine Zeit, da war die Belastung größer als all mein Vermögen, damit umzugehen. Es gab eine Zeit, da brach ich unter dieser Last zusammen. Doch war es meiner Ansicht nach nicht nur die zu große Belastung, weshalb dies geschah. Es wurde auch dadurch begünstigt, dass ich nahezu blind war für mich selbst. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich damals erkannt, was ich heute erkenne, hätte ich damals so gelebt, wie ich es heute tue, dann wäre es vermutlich nie soweit gekommen.

Wer hält hier wen fest?

Warum also weiter an der Depression festhalten? Irgendwann passiert es, so ist mein Eindruck, dass die Depression nicht mehr uns, sondern wir die Depression festhalten. Jedenfalls kam mir dieser Gedanke schön des öfteren nach dem Besuch meiner Selbsthilfegruppe. Sie ist uns vertraut geworden. Wir haben uns mit ihr und in ihr eingerichtet. Wir akzeptierten, dass es uns nicht gut tat, unter Menschen zu gehen. So gewöhnten wir uns daran, wenig aktiv zu sein. Wir glauben irgendwann, all das was zu einem Leben in Fülle dazu gehört, nicht mehr schaffen zu können. Wir glauben dies, weil es gefühlt schon immer so war. Aber stimmt das auch? Waren wir schon immer so?

Was war vor meiner Depression?

Bin ich etwa schon als Baby depressiv gewesen? Dabei war ich doch ein ganz normaler Junge, der das Leben kennenlernen wollte. Ich habe gelacht und geweint, gegessen, getrunken, gespielt und geschlafen. Ich hatte Freude am Lernen und daran, neue Dinge auszuprobieren. Zugegeben, der baldige Tod meiner Mutter riss ein riesiges dunkles Loch in mein Leben, das nie wieder jemand zu stopfen vermochte, aber war ich fortan depressiv? Nein. Ich hatte zwar keine Mutter mehr, dafür bekam ich jetzt aber regelmäßig Schläge. Das war doch auch eine Form der Zuwendung, oder? Damals stellte ich das nicht in Frage. Dass Eltern ihre Kinder schlugen, war normal. Sie nannten es „gute Erziehung“. Ich akzeptierte, das es so war. Es war eben so, wie es war.

Ich hatte Freunde, mit denen ich spielte und wenngleich ich auch nicht besonders gern zur Schule ging, war ich dort keineswegs ein Außenseiter, sondern schon mittendrin, jederzeit für einen Spaß oder eine Dummheit bereit.

Eine relativ normale Jugend

Mein Gott, was haben wir unsere Lehrer geärgert! Wir fanden, sie hatten es verdient. Mit 15 hatte ich meinen ersten Führerschein. Führerschein durfte man in der DDR nicht sagen, weil es das Wort „Führer“ enthielt. Politisch korrekt hieß es „Fahrerlaubnis“. Wir nannten es „den Lappen“. Mein erstes Moped kostete 30 Mark. Ich habe einen Teil meiner Briefmarkensammlung dafür verkauft. Moped fahren war mein größtes Glück und so knatterte ich glücklich der Welt der Erwachsenen entgegen. Als ich sechszehn war, durfte ich den Motorradführerschein machen. Im Osten war das erschwinglich und sprengte nicht die Haushaltskasse der Familien. Ich habe meine Führerscheine immer selbst bezahlt, auch den späteren LKW-Führerschein. Dafür machte ich Ferienjobs, was ich übrigens sehr gern tat. Meine gute alte SR2 (Moped) wurde deshalb wieder verkauft. Auch ein altes Kurzwellensprechfunkgerät wurde in klingende Münze verwandelt und ich schaffte mir eine ES150 (Motorrad) an.

Mann, war ich stolz wie Otto! Nein, von Depressionen war auch hier keine Spur zu sehen.

Alles im Griff

Ich erinnere mich nicht an Zeiten dauernder Bedrücktheit. Ich erinnere mich nicht an Zeiten dauernder Freudlosigkeit. Mein Leben war mit Sicherheit nicht immer leicht, aber ich habe es nie als schwer empfunden. Ich hatte das Gefühl, alles im Griff zu haben, im Rahmen meiner Möglichkeiten stets das Beste aus dem machen zu können, was sich mir an Chancen bot. So erlernte ich einen Beruf, leistete meinen Wehrdienst ab und studierte auf dem zweiten Bildungsweg Automatisierungstechnik. Ich verliebte mich, heiratete und gründete eine Familie. Vier wunderbare Mädchen sind aus ihr hervor gegangen. Ich stellte einen Ausreiseantrag und wurde verhaftet. Aber ich ließ mir den Mut nicht nehmen. Ich hatte Angst in der Stasihaft, aber ich war nicht depressiv. Selbst hier war Platz für Dummheiten, für Unerlaubtes, für kleine Provokationen.

Nicht hoffnungslos trotz Haft

Auch zu jener Zeit haben wir gelacht und Witze gemacht. Da der Kontakt zu Mithäftlingen aus anderen Zellen strengstens untersagt war, haben wir uns mittels Klopfzeichen unterhalten. Jeder Buchstabe hatte seinen eigenen „Morse-Code“. Oder verabredeten uns per Klopfzeichen zu einer echten Besprechung. Hierzu musste man nur das WC leer schöpfen, dass sich ja in jeder Zelle befand. So konnte man sich wunderbar mit allen Insassen unterhalten die am selben Abflussrohr angeschlossen waren. Das waren jeweils die Nachbarzelle und die genau darüber und darunter liegenden Zellen. So machten wir das Unmögliche möglich. Ich blickte nicht hoffnungslos in die Zukunft, denn ich hatte ein Ziel. Wir alle dort hatten dieses Ziel: Ein Leben in Freiheit. Ich erreichte mein Ziel. Nach etwa einem halben Jahr des Getrenntseins, schloss ich meine Familie wieder in die Arme. Das war im Januar 1989.

Neuanfang

Wir fingen neu an. Nicht bei Null , denn wir hatten ja uns und unsere Lebenserfahrung, aber ansonsten hatten wir nicht viel. Fast alles Materielle blieb jenseits der Mauer. Wir arbeiteten und sparten und wir gaben aus und genossen. Wir hatte ein gutes Leben. Als es langsam eng wurde in der Wohnung und sich auf unserem Sparkonto doch nennenswerte Beträge angesammelt hatten, bauten wir ein Haus für die ganze Familie. Wir haben viel selbst gemacht. Schön ist es geworden und wohl haben wir uns dort gefühlt. Es war unser.

Sich nicht reduzieren lassen

Wenn ich zurück schaue auf mein Leben, dann sehe ich jede Menge Energie, Lebensmut, Lebensfreude und Neugier. Ich sehe Glück und Zufriedenheit. Und obschon es auch dunkle Phasen gab, sehe ich keinerlei Depression. Meine Oma hatte, als ich Anfang zwanzig war, Depressionen. Damals kümmerte ich mich verstärkt um sie. Aber ich selbst schien vor einer solchen Erkrankung sicher zu sein. Ich bin mehr als meine Depression! Alles was ich erlebte und durchlebte ließ mich zu dem werden, was ich heute bin. Dazu gehört inzwischen auch die Depression, aber eben nicht nur. Zu mir gehört auch meine Kindheit und Jugend, zu mir gehört auch die Erfahrung zu lieben und geliebt zu werden, Kind und Enkel, Vater und Partner zu sein, Freund und Arbeitskollege. Es gibt so unbeschreiblich viel, was vor meinem geistigen Auge auftaucht, wenn ich auf meinem Zeitstrahl zurück gehe.

Ein Leben in Fülle

Es ist ein Leben in Fülle, das sich hier zeigt, ein erfülltes Leben. Zu all dem war ich fähig. Zu all dem war ich in der Lage und bin es noch heute. Denn alle Ressourcen, die hierfür nötig waren, trage ich noch immer in mir. Ich bin der Depression keineswegs ausgeliefert wie ein Opfer seinem Henker. Eigentlich hatte ich nur vergessen, wie reich ich doch beschenkt wurde. Ich hatte mich womöglich etwas zu sehr um die Depression gekümmert und den Rest der Welt darüber etwas aus den Augen verloren. Es tut gut, einmal auf diese Weise sein Leben an sich vorbeiziehen zu lassen, um erneut hinein zu fühlen in diesen oder jeden Tag. Ich fühle, dass ich all dies auch heute noch kann, wieder kann. Ich möchte nun wieder ein Leben aus der Fülle führen. Wie kann ich dies schaffen? Nun, ich werde ich es füllen…

Quellen zu „Ich bin mehr als die Depression“

Foto: clipdealer.de

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