Lebensmüde – Wenn nichts mehr geht
Lebensmüdigkeit ist leider immer noch ein Thema, mit dem nicht offen umgegangen werden kann. Wir sollen zwar alle die Verantwortung tragen für unser Leben, aber wenn es um das Ende geht – in diesem grundlegenden Punkt, ob überhaupt und wie lange wir leben wollen, wird uns die Zuständigkeit abgesprochen. Wer, wenn nicht wir selbst, sind denn verantwortlich für unser Leben? Wir wurden nicht gefragt, ob wir geboren werden wollten. Und wir wurden schließlich auch nicht gefragt, ob wir überhaupt in dieser Zeit zu leben bereit waren. Lebensmüde zu sein, wird nur sehr selten akzeptiert.
Lebensmüde – Gedanken zum Suizid
Ich kann nicht genau sagen, wie lange die Depressionen mich nun schon im Griff hat. Seit zehn Jahren ist sie aktenkundig, aber ich gehe davon aus, dass sie schon über 20 Jahre mein Leben verändert. Als die Suizidalität hinzu kam, als ich aufgeben wollte, ich lebensmüde war, und dadurch meinen ersten Kontakt zur Psychiatrie hatte, war quasi der Tiefpunkt meiner Erkrankung. Tiefer wäre es auch tatsächlich nicht mehr gegangen, denn ich war bereit, aus dem Leben zu gehen. Ich war des Lebens müde, hatte all meine Kraft und Zukunft verloren.
Wenn ich heute so darüber nachdenke, stelle ich mir die Frage: Ist es eigentlich richtig, einen Menschen aufzuhalten, der gehen will? Wie gehen wir um mit der Suizidalität? Unsere Gesellschaft duldet keine „Drückeberger“. Sie nennt es Selbst-Mord, wenn jemand beschließt, sein Leben zu beenden. Mord ist weltweit das schwerste Verbrechen und verjährt nie. Vermutlich hat das mit unserer christlichen Tradition zu tun, in der Selbstmord eine Todsünde ist.
Selbstmörder wurden früher sogar außerhalb der Friedhöfe begraben. Allein die Depression war schon eine schwere Sünde und konnte zur Exkommunikation, zum Ausschluss aus der eucharistischen Gemeinschaft führen. Vielleicht ist es aber auch die weit verbreitete Angst vor dem eigenen Tod, die der Suizidalität die Maske des Schreckens aufsetzt. Aber im Grunde ist Suizidalität genauso ein Signal des Körpers wie die Depression: „Ich kann nicht mehr!“
Lebensmüde und entmündigt
Wenn ein alter Mensch sich den Tod wünscht, dann haben wir alle Verständnis dafür. Niemand spricht dann von Lebensmüdigkeit, obwohl es das doch gerade so treffend beschriebe. Wenn ein todkranker Mensch sich das Ende seiner Qualen herbei sehnt, dann können wir das nachvollziehen. Aber wenn ein Depressiver dasselbe tut, wird er weggesperrt, zu seinem eigenen Wohl, wie es heißt. Aber mal ehrlich, wer fühlt sich wohl, wenn er eingesperrt wird? Wenn ich öffentlich äußere, dass ich nicht mehr leben will, werde ich de facto für verrückt erklärt. Mir wird jegliche Urteilsfähigkeit abgesprochen. Ich werde, auch gegen meinen Willen und Notfalls mit polizeilicher Gewalt, in ein psychiatrisches Krankenhaus verbracht und dort erst wieder entlassen, wenn fremde Menschen es für angebracht halten. So ist die deutsche Rechtslage. So hilflos gehen wir mit Suizidalität um.
Aber was unterscheidet einen Depressiven von einem todkranken Patienten oder von einem Menschen in biblischem Alter? Indem was er fühlt, sicher gar nichts. Für ihn wäre der Tod eine Erlösung, ein Ende seiner Qualen. Nun könnte man sagen, bei dem Depressiven besteht die Aussicht auf Besserung. Ja das ist wahr. Die Aussicht besteht tatsächlich. Aber was, wenn ich doch eigentlich gar nicht mehr leben möchte? Hat die Gesellschaft wirklich das Recht, über mein Leben und meinen Tod zu entscheiden? Ich denke NEIN! Es ist mein Leben und meine Verantwortung. Zumal niemand außer mir imstande ist, ernsthaft Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Wenn schon Verantwortung der Gesellschaft, dann an einer ganz anderen Stelle, nämlich Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen und zu erhalten, die ein menschliches Leben auch ermöglichen, Bedingungen zu schaffen, die die Suizidalität überflüssig machten…
Lebensmüdigkeit und Statistik
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Angesichts der etwa 10.000 Selbsttötungen jedes Jahr allein in Deutschland sehe ich dort noch jede Menge Potential. Wie steht es denn im 21. Jahrhundert mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Wie kinder- und damit menschenfreundlich ist eine Gesellschaft, in der eine Eintrittskarte für den Zoo mehr als 20 Euro kostet und in der für Bildung bezahlt werden muss? Alles was zählt in dieser Welt ist der Profit und die Menschen bleiben dabei auf der Strecke. Aus meiner Sicht gibt es im weltweiten Kampf um Geld und Gewinn nur Verlierer.
Wir Menschen verlieren unser Leben und unsere Identität. Selbst die scheinbaren Gewinner sind davon nicht ausgenommen. Sie haben zwar Geld, aber sie können nicht das Leben führen, das sie möchten. Sie haben ihr Leben verloren, ihre Seele verkauft, eingetauscht gegen Papier, Papier mit einem Dollarzeichen. Reichtum gibt es nicht zum Nulltarif – der Teufel will etwas dafür haben.
Das alles führt mich zu der Forderung, dass Politik und Gesellschaft zunächst ihrer eigentlichen Verantwortung nachkommen sollte, bevor sie diejenigen kriminalisiert, die sich dem Leben nicht mehr gewachsen sehen. Suizid ist ein Thema für alle, am meisten für die, die diese Wahrheit weit von sich weisen.
Quellen zu „Ich bin lebensmüde“ Suizid und Statistik
Statista Foto: Jetti Kuhlemann / pixelio.de