Warum habe ich Depressionen?
Warum habe ich Depressionen? Weshalb bin ich depressiv? Diese Fragen stellen wir uns oftmals zu Beginn einer depressiven Episode. Wir können nicht verstehen, dass es uns so sehr erwischt hat, glauben die Depression sei buchstäblich vom Himmel gefallen und habe uns ebenso buchstäblich erschlagen. Wir ahnen nicht, wie viel wir selbst dazu beigetragen haben und am Ende alles so kommen musste und schon gar nicht können wir auch nur einen Funken Gutes an der Depression erkennen. Doch wie alles in der Natur und der Entwicklung des Menschen einen Sinn hat, so scheint es auch, dass die Depression für irgendetwas gut ist.
Warum bin ich depressiv?
Wenn sich die Disposition, also die genetische Veranlagung zur Depression seit Jahrhunderten immer wieder vererbt hat, dann muss sie den Menschen aus Sicht der Evolution auch Vorteile verschafft haben. Nichts entwickelt sich und hält sich nach über so lange Zeit ohne einen triftigen Grund. Alles hängt miteinander zusammen und so verhält es sich vermutlich auch mit der Depression. Also, warum habe ich Depressionen? Wo liegen Vorteile und Nutzen der Depression? Ich sehe in der Depression eine Art Urkraft, einen Urimpuls, der in jedem Menschen angelegt ist. Es ist eine Art Notprogramm, auf das das Auto „Mensch“ umschaltet, damit es noch bis in die nächste Werkstatt fahren kann.
Die gelbe Lampe
Wir alle kennen das kleine gelbe Symbol aus dem Cockpit unserer Fahrzeuge. Natürlich kann man auf dem Notprogramm auch noch weitere Strecken zurück legen oder so tun, als wäre es gar nicht aktiv. Aber bei unserem, über alles geliebten Automobil würden wir das niemals tun. Es könnte doch Schaden nehmen und deshalb halten wir es zumeist für geboten, sofort nach dem Auftreten der ersten Anzeichen, eine Werkstatt aufzusuchen und uns helfen zu lassen. Mit uns selbst allerdings gehen wir da meist nicht so behutsam um – sollten wir aber! Gerade Depressive wissen das, denn irgendwann im Leben haben sie die Rechnung dafür bekommen. Im Grunde genommen sind wir an uns selbst schuldig geworden und nun gilt es, diese Schuld zurück zu zahlen, Cent für Cent.
Warum Depression mit Überforderung zu tun hat
Die Depression steht bei mir für eine ständige Überforderung. Überforderung erzeugt Stress – ständige Überforderung erzeugt Dauerstress. Ich habe viel erreicht in meinem Leben. Die DDR überlebte ich als „Staatsfeind“ und fing im freien Deutschland neu an. Ich hatte quasi nichts, außer dem was ich auf dem Leibe trug, als ich von der Stasi in den Zug in Richtung Gießen gesetzt wurde. Aber ich hatte meine Freiheit. Ich musste bei Null wieder anfangen. Nicht einmal mein Beruf (ich war Mess-und Regeltechniker) war hier anerkannt. Dafür brauchte ich dafür eine Bescheinigung. Ich war „Der aus dem Osten“ und stand in der Hackordnung der Gesellschaft auf ziemlich unterster Stufe. Ich habe viel gearbeitet und meinen Beruf sehr ernst genommen. So habe ich mir im Laufe der Zeit Respekt und Anerkennung erwerben können, in der Firma, in der Nachbarschaft, in der Kirchengemeinde.
Das hört sich doch alles gut an, denkst du? Aber warum habe ich Depressionen? Nun, es geht noch weiter…
Immer noch mehr
Ich habe ein Haus gebaut für meine Familie. Auf dem zweiten Bildungsweg absolvierte ich ein vierjähriges Fernstudium zum Staatlich geprüften Techniker. Ich habe für meine Familie und meine inzwischen an Alzheimer erkrankte Oma gesorgt, in dem ich sie in meinen Haushalt aufnahm. Ich habe den Rasen gemäht, die Hecke geschnitten und versucht, ein guter Nachbar zu sein. Lektor in meiner Gemeinde war ich ebenso gern und selbstverständlich, wie ich mich in den Kirchenvorstand wählen ließ. Ohne je einer Partei angehörig gewesen zu sein, kandidierte ich für die Kommunalwahl und hätte man mir das Amt des Papstes angeboten, hätte ich das auch noch angenommen, denn einer muss es ja tun. Zugegeben, ich habe viel geschafft in meinem Leben. Nur eines, das habe ich nicht recht geschafft.
Wichtiges nicht geschafft
Ich schaffte es nicht, auf mich selbst Acht zu geben, meine Grenzen wahrzunehmen und für mich und meine Gesundheit zu sorgen. Ich habe mich permanent selbst überfordert und sogar alle Signale, die mir mein Körper um die Ohren schlug, missachtet. Die Frage ist also nicht „Warum habe ich Depressionen?“, sondern eher wohl: „Warum hatte ich solange keine Depression?“.
Depression und Perfektionismus
Und warum ausgerechnet Depressionen? Hätte es nicht ein Herzinfarkt sein können, wie ihn jeder andere hat? Nun, vermutlich wäre ich anders nicht zu stoppen gewesen. Die gelbe Lampe war schon lange an. Angehörige sehen das meist früher als man selbst. Aber wer will schon deren guten Rat? „Ich glaube, du brauchst Hilfe!“, hieß es, aber das wollte ich nicht hören. Das Leben muss doch schließlich weiter gehen. Bloß nicht schwächeln! Flagge zeigen! Gelbe Lampe? Was sollte ich denn damit anfangen? Man muss doch seine Pflicht tun und seiner Verantwortung als Vater, Ehemann, Sohn, Enkelsohn, Kollege, Nachbar, Bürger, Christ, kurzum als Mensch inmitten der Gesellschaft gerecht werden!!
Zweihundert Prozent
Ich wollte das wirklich und war mit 90% meist nicht zufrieden. Leider ist es oft so, dass man 90% in der Hälfte der Zeit schafft und für die restlichen 10% die andere Hälfte benötigt. Hätte ich mich nicht mit 90% begnügen können? Das wäre doch auch ein Top-Ergebnis! Nein! Ich musste ja alles hundertprozentig richtig machen, am besten zweihundertprozentig!
Warum die Depression eine Hilfe war
Anerkennung und Bestätigung von außen waren mir wichtiger, als einmal nach innen zu hören. Letztlich hat erst die Depression mich dazu gezwungen, etwas anders zu machen. Sie hat mich gelehrt, dass es etwas Wichtigeres gibt, als die Anerkennung von außen, nämlich die eigene Anerkennung. Die Depression hat mich gelehrt, auf mich zu achten und auf das, was für mich gut ist. Ohne die Depression hätte ich nicht überleben können. Sie war ein wichtiger Wendepunkt in meinem Leben. Es gibt also tatsächlich allerlei gute Gründe für mich, depressiv zu sein. Und wenn ich alles richtig mache, oder wenigstens 90% davon, dann wird sie eines Tages womöglich überflüssig sein. Erst durch die Depression fragte ich „Warum?“ Erst seit der Diagnose Depression kann ich die Anzeichen und Symptome, die mein Körper mir zeigt, erkennen.
Aussicht auf Heilung
Seit ich um diese Zusammenhänge weiß, habe ich auch wieder Hoffnung, die Depression überwinden zu können. Ich habe eine Aussicht auf Heilung, denn ich weiß nun um die Ursachen meiner Depressionen. Man kann die Depression heilen, zwar nicht als psychische Krankheit, aber als Gesamtpaket Mensch. Antidepressiva helfen mir dabei und unterstützen mich, aber die meisten Symptome kann ich nur im Kopf behandeln. Ich habe mich lange um die halbe Welt gekümmert. Nun ist es an der Zeit, mich selbst und meine Depression zu behandeln. Die Frage „Warum habe ich Depressionen?“ stelle ich mir nun nicht mehr.