Die Zeit vergeht ohne mich – Leben in der Vergangenheit

leben in der vergangenheitDepressive haben es oft besonders schwer, den Augenblick zu erleben. Sie leben in der Vergangenheit oder lassen sich von Zukunftsängsten plagen. Es scheint mir inzwischen ein deutliches Anzeichen einer Depression zu sein, dass sie irgendwie ihr Zeitgefühl verloren haben. Das sich immer wiederholende Erleben der Vergangenheit ist eigentlich ein Mittel der Verarbeitung. Jedoch schafft der Depressive es meist nicht, den Schritt nach vorn zu gehen, weiter zu gehen. Er verharrt in Trauer und Schwermut. Zudem beklagt er seinen Verlust und kann leider nicht sehen, dass jeder Verlust auch neue Chancen birgt. Für ihn endet dann sein Leben tatsächlich in der Vergangenheit. Er hört auf zu leben, er nimmt seine Gegenwart nicht wahr. Alles was er noch wahrnimmt ist, dass alles Leben an ihm vorbei zu ziehen scheint. Die Welt dreht sich ohne ihn weiter, aber er ist nicht mehr Teil derselben. Die Zeit vergeht ohne ihn.


Depressionen und Leben in der Vergangenheit

Ich habe diese Phase auch kennen gelernt und ich kann heute sagen, es war die schwerste Zeit meines Lebens. Während dieser Zeit kam ich tatsächlich mehrmals an meine Grenzen. Ich war so erschöpft, dass mir schlichtweg die Kraft fehlte, weiter zu gehen. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes des Lebens müde geworden. Nicht einmal meine Zeit als politischer Häftling in der DDR brachte mich so sehr an meine Grenzen.

Heute habe ich einigermaßen Frieden gefunden mit meiner Vergangenheit. Ich kann darauf schauen und nehme wahr, dass es eine schwere Zeit war, aber ich bleibe nicht mehr in ihr verhaftet. Ich kann heute die damalige Trennung von meiner Frau nicht mehr nur als Velrust sondern auch als Gewinn betrachten. Vermutlich wäre ich nicht mehr am Leben, hätte ich diesen Schritt nicht getan und mein Leben hätte nicht diese positive Wendung bekommen. Ich war damals Mitte Vierzig und freute mich auf ein Leben als Rentner, in der Hoffnung, dann ein gutes Leben zu haben. Ich war nicht mehr in der Lage, ein erfülltes Leben in der Gegenwart zu führen, ergo projizierte ich es in die Zukunft.

Das Gefühl im Moment

Heute sehe ich in allem einen Sinn und bin froh dass es so gekommen ist. Ich habe nun wieder eine Chance auf ein Leben und nicht selten fühle ich das Leben sogar schon wieder. Bislang glaubte ich felsenfest, ich wäre meinen Depressionen hoffnungslos ausgeliefert ohne Aussicht auf Genesung. Sie wären so etwas wie eine Alkoholkrankheit, bestünden also zeitlebens. Nun vielleicht ist es auch an dem. Was aber viel wichtiger ist: Ich habe heute das Gefühl, dass die Depression sich allmählich wieder heraus schleicht aus meinem Leben. Ich habe das Gefühl, Fortschritte zu machen. Ich spüre Hoffnung. Und es ist mir mittlerweile nicht mehr ganz so wichtig, ob es mir gut geht, weil ich Pillen nehme und bestimmte Regeln beachte. Entscheidend ist heute für mich, welches Lebensgefühl ich im Moment habe. Es ist mir nicht mehr so wichtig, was drauf steht, sondern was drin ist, welches Grundgefühl mein Leben beherrscht.

Depressionen Ängste und Sorgen

Ein weiteres deutliches Anzeichen der Depression ist neben dem Grübeln über die Vergangenheit das Grübeln über die Zukunft. Ich muss begreifen, dass ich kein Leben haben kann, wenn ich meine Zeit in der Zukunft vertrödele. Ich kann dann den Moment gar nicht wahrnehmen, wenn doch Ängste und Sorgen mich nahezu erdrücken. Und glaubt mir, ich bin ein wahrer Meister darin, wenn es darum geht, Probleme zu lösen, die noch gar nicht da sind und womöglich auch nie, zumindest nicht so wie von mir erdacht, eintreten werden. Ich glaube für jeden Fall eine Lösung parat haben zu müssen, damit ich dann, wenn es soweit ist, schnell und richtig reagieren kann. Ich bin nämlich nicht gerade der Schnellste, wenn es um Reaktionen geht. Für jede Eventualität erfinde ich einen Plan B bis Z, so dass ich immer gewappnet bin, was auch kommen möge.

Ganz klar, dass das sehr viel Energie verbraucht und ich dann keine Ressourcen mehr habe, wenn mich im wahren Leben einer mal schief anguckt. Und ein weiterer, nicht ganz unwesentlicher Punkt kommt noch hinzu: Der Versuch, jedwede Situation schon im Vorfeld kontrollieren zu müssen, unterdrückt auch meine Kreativität. Meine Intuition hat dann nicht einmal den Hauch einer Chance, wirksam zu werden. Sie wird regelrecht unterdrückt. Keine Intuition zu haben, bedeutet aber auch, kein Vertrauen haben zu können und somit schließt sich der Kreis.

Dann muss ja quasi der Kopf die Kontrolle übernehmen, wenn es sonst keine Instanz gibt, auf die man sich verlassen kann. Auf meine Intuition kann ich mich immer verlassen. Ich muss nur lernen, sie auch wieder zuzulassen. Ich muss meinem Kopf das sagen, muss ihn spielen schicken, wenn er sich wieder einmal Sorgen macht und ihm sagen, dass das nun nicht mehr seine Aufgabe sei, dass die Intuition jetzt wieder übernehmen könne.

Die Zukunft drückt wie eine Depression

Ich weiß noch nicht, wie ich diese Zukunftssorgenverliebtheit bekämpfen kann, aber ich sehe zumindest schon, dass darin ein Schlüssel für mich liegt. Irgendwie schwebt alles, was zu tun ist, vor meinen Augen – alles auf einmal. Da gibt es jede Menge Hausarbeit, die erledigt werden muss, ich sollte zum Arzt gehen, wegen des Tinnitus, zum Orthopäden müsste ich auch und der Zahnarzt ist längst überfällig.

Ich muss ein Auto verkaufen, die Sanierung des Wohnzimmers abschließen, die Äpfel im Garten aufsammeln, einen Zaun bauen, den Dachboden aufräumen …. ich könnte zwei Seiten voll schreiben und wäre noch lange nicht am Ende. Aber das interessiert hier keinen, nehme ich an. Worum es geht ist, dass ich mir selbst damit so viel Druck mache, dass es mich niederdrückt, deprimiert, soviel zu müssen und so wenig zu schaffen. Der Druck ist so groß, dass ich erst gar nicht anfangen mag. Wenn ich dann irgendetwas meiner 2 km langen Liste abgearbeitet habe, dann verschafft mir das zwar Erleichterung. Ein positives Gefühl aber, die Sache selbst kann ich nicht genießen.

Und da nehme ich mir etwas Entscheidendes. Denn das, was ich jetzt tue, in diesem Moment, das ist mein Leben und das bestimme ich selbst. Ich bestimme, was ich tue und was nicht und ich bin es auch, der es bewertet, also bin ich auch derjenige, der bestimmt, wie ich mich fühle. Hier liegt wohl mein Therapieziel der nächsten Jahre im Kampf gegen die Depressionen: Benno, gönne dir den Augenblick! Kaum etwas ist so wichtig, dass man es nicht auch später machen könnte. Niemand verlangt etwas von dir – du selbst bestimmst dein Leben! Und das sollte doch fortan schließlich ein gutes sein …

Quellen zu „Leben in der Vergangenheit und Depression
Foto: Lupo / pixelio.de

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