Die Depression als Chance

Depression als zweite Chance

Ich hatte nicht mehr daran geglaubt. Auch ich dachte, die Depression sei so etwas wie der Krebs der Seele, etwas das dich von innen heraus zerfrisst. Ich war der Überzeugung, dass ich nun bis ans Ende meiner Tage, die sicherlich bald kommen würden, zurückgezogen und Menschen meidend, mit hängenden Schultern und verlangsamtem Gang, mehr recht als schlecht mein Leben zu fristen hätte. Ich war dankbar, dass ich nicht mehr arbeiten brauchte, keinen Druck mehr von dieser Seite hatte. Es tat mir gut, zur Ruhe kommen zu können nach all den Wirren vergangener Jahre. Ich glaubte nicht an eine Heilung meiner Depression. und ganz gewiss war es mir unmöglich, die Depression als Chance zu betrachten.

Zweite Chance

Heute nun, viele Jahre und Tage nach meinem Zusammenbruch, sitze ich hier an meinem Schreibtisch, neben mir ein frisch gebrühter Latte Macchiato und schreibe über mich, meine Depressionen und mein Leben. Heute kann ich meine Depression als Chance begreifen. Sie hat plötzlich nichts Dunkles mehr, nichts Angsteinflößendes. Sie ist meine Wegbereiterin geworden, hat mir Türen geöffnet, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gab. Der Depression verdanke ich gewissermaßen mein heutiges Leben. Sie hat mir eine zweite Chance gegeben, die mir selbst zu nehmen, ich allein niemals imstande gewesen wäre.

Ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient! Der eine findet seinen Weg selbst, der andere läuft sich auf Irrwegen die Füße platt und kommt doch nicht voran. Ich war von jeher schon eher der festgefahrene Typ, der fest haltende, nicht loslassen könnende. Wenn man sich meinen Schuppen anguckt und bedenkt, dass ich hier noch nicht all zu lange wohne, dann versteht man, was ich meine. Als alter Ossi sammle ich alles, was ich eventuell noch einmal gebrauchen könnte (oder auch nicht). Alles hat einen Wert für mich und ist im Einzelfall viel zu schade, weggeworfen zu werden. Ich halte fest, an meiner Kleidung, meinen Gewohnheiten, leider auch an meinen Sorgen…

Wichtige Fragen

Wäre die Depression nicht gekommen, hätte ich keine Gelegenheit gehabt, das eine oder andere loslassen zu können. Ich hätte keine Gelegenheit gehabt, so intensiv über mich, meine Vergangenheit und meine Gegenwart nachzudenken. Ich hätte vermutlich einfach immer so weitergemacht, wie ich es gewohnt war, einfach wie immer.

Dank dieses Bruchs in meinem Leben war es mir vergönnt, innezuhalten und mir über einige grundlegende Fragen klar werden: Wer bin ich? Welche Eigenschaften habe ich? Was kann ich gut und was sollte ich lieber andere machen lassen? Welche Dinge sind mir wichtig? Was vermeide ich? Was tut mir weh und warum ist das so? Und was tut mir gut? Was bedeutete ich meinem Eltern? Wie stehe ich zur Schöpfung und zur Religion? Was halte ich von mir? Liebe ich mich? Bin ich stolz auf mich?

Wie stehe ich zu einer Lebenspartnerschaft und in welchem Verhältnis möchte ich zu meinen Kindern stehen? Bin ich zufrieden mit mir? Oder mit anderen Worten: Habe ich Frieden? Was brauche ich? Was wünsche ich mir? Wie stelle ich mir mein Leben vor? Ist mein Leben so, wie ich es mir vorstelle? Und wenn nicht: Was kann ich tun, damit mein Leben alsbald meinen Vorstellungen entspricht?

Depressionen tun nicht weh

All diese Fragen und noch mehr hätte ich mir womöglich niemals gestellt, wäre nicht eines schönen Tages Mrs. Depression gekommen, um an meine Tür zu klopfen. Und deshalb bin ich ihr tief in meinem Herzen auch irgendwo dankbar. Natürlich war es nicht angenehm durch den vielen Schmerz hindurch zu gehen. Diesen Schmerz aber trug ich lange Zeit bevor ich depressiv wurde schon in mir. Die Depression förderte nur zu Tage, was bereits da war, brachte es ans Licht. Die Depression selbst ist freundlich, sie verursacht keinen Schmerz. Der Schmerz, um den es hier geht, ist meist schon sehr alt und reicht oft bis in Kindertage zurück. Er ruht tief in uns, jederzeit bereit, aufzubrechen und gefühlt zu werden.

Es ist in etwa wie zum Zahnarzt zu gehen. Gehst du nicht hin, wird der Schmerz größer, womöglich verlierst du deine Zähne ganz. Sich der Sache zu stellen, bedeutet mitunter Schmerz, bedeutet mit Sicherheit Unannehmlichkeiten, aber am Ende fühlst du dich deutlich wohler als vorher. Der Zahnarzt ist nicht verantwortlich für deine Schmerzen. Wären deine Zähne gesund, müsste er dich nicht malträtieren. Also bist du ihm am Ende dankbar, wenn endlich alles gut ist.

Ein neues Leben

Ich habe viel verändert, zuerst äußerlich. Das war noch relativ einfach. Als erstes kam der sprichwörtliche alte Bart ab. Die Haare wurden länger, die Kleidung weniger altbacken. Ich habe mir wieder ein Haus gekauft, denn als Mieter fühlte ich mich nicht wohl. Ich habe mich um eine vorzeitige Rente bemüht und habe sie auch bekommen. Weil ich immer gut verdient habe, ist meine Rente auskömmlich. Nicht dass ich große Sprünge machen könnte, aber im Großen und Ganzen ich bin zufrieden. Ich führe ein selbstbestimmtes Leben. Ich schlafe, wenn ich müde bin und esse wenn ich Hunger verspüre. Ich gehe spazieren, wenn ich mich bewegen will und ich ruhe mich aus, wenn mir danach ist. Niemand schreibt mir mehr etwas vor. Ein wunderbares Leben ist das.

Und jetzt kommt der Knüller! Obwohl ich doch so davon überzeugt war, nie wieder zurück zu wollen in diese laute und schnelle Welt, ist es nun doch ganz anders gekommen, als ich dachte. Ich habe mich selbstständig gemacht. Seit einem Jahr führe ich eine Praxis für Psychotherapie und Hypnose und helfe Menschen mit Depressionen, Menschen mit Angststörungen und auch bei anderen seelischen Leiden. Ich habe eine Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie gemacht und eine Prüfung abgelegt, alles in meinem Tempo und im Rahmen meiner Möglichkeiten. Bei meiner Arbeit kommt es mir zugute, dass ich weiß, wie es sich anfühlt. Nicht dass ich zu 100 % geheilt wäre, aber ich habe gelernt, mit meinen Einschränkungen zu leben. Ich achte heute sehr viel besser auf mich und meine Bedürfnisse. Ich habe die Depression als Chance begriffen.

Depressiver macht sich selbstständig

Ist das nicht eine herrliche Schlagzeile? Ein Depressiver macht sich selbstständig? „Na, das kann ja wohl nicht ernst gemeint sein. Die kriegen doch nichts gebacken?“ So oder ähnlich könnte die Reaktion darauf aussehen. Ein absolutes Vorurteil, wenn ich nur einmal kurz an Robert Enke erinnern darf. Jawohl, ich habe mich selbstständig gemacht. Nichts Großes, nichts Besonderes, aber immerhin! Ich beginne ergebnisoffen, wie man so schön sagt, gebe aber zu, dass der Ehrgeiz mich schon gepackt hat und ich natürlich nur allzu ungern wieder aufgeben würde. Aber genau da muss ich aufpassen. Genau da baut sich die Falle auf, in die ich nicht tappen sollte.

Maß halten mit den Kräften ist angesagt, denn auch wenn es mir momentan gut geht – ich bin nicht umsonst vorzeitig verrentet worden! Aber ich habe es geschafft. Ich habe alle behördlichen Hürden genommen und nun stehe ich hier mit dem Ergebnis meines Wollens und Handels und schaue mit Stolz auf meinen Weg. Mein Leben schien zu Ende. Aber manchmal ist das Ende nur die Tür zu etwas Neuem, etwas Besserem. Die Depression als Chance wahrzunehmen, fällt mir heute viel leichter. Es ist noch gar nicht so lange her, da war mir das schier unmöglich.

Ein Schritt zurück ins Leben

Das schöne an der ganzen Sache ist, dass ich nunmehr der Welt verkünden kann: „Ich bin wieder da!“ Ich habe noch etwas zu sagen.“ Ich freue mich auf das, was da kommen mag!

Das ist zwar alles Neuland für mich, eine Herausforderung, aber es macht mir Spaß dieses Land zu betreten und zu erkunden. Es ist wieder ein kleiner Schritt zurück ins Leben, vielleicht sogar ein richtig großer…

Quellen zu „Depression als Chance“
Foto: Jens Goetzke / pixelio.de

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