Ständiges Bedauern und Depression

Bedauern

Wenn einem Menschen nach Trauer ist, trauert er. Wenn ihm nach Frohsinn ist, ist er fröhlich. Als Depressiver habe ich die zweite Option jedoch ziemlich aus den Augen verloren. Ich schaue mir die Gegenwart und vor allem die Vergangenheit immer wieder aus demselben Blickwinkel an. Irgendetwas finde ich dann zumeist auch, dass ich anders haben will, mich einer Änderung aber nicht imstande sehe. Wenn ich so über mein Leben nachdenke, dann bedaure ich zum Beispiel, dass ich ein so schlechtes Verhältnis zu meinen Geschwistern und meinem Vater, also meiner Ursprungsfamilie habe.

Ich bedaure, dass ich meinem Kind durch die Scheidung von seiner Mutter die Familie nahm. Auch bedaure ich, dass meine Mutter so früh starb und ich so wenig von ihr weiß und dass meine Oma nicht mehr lebt. Ich bedaure, dass ich nicht mehr arbeitsfähig und schon auf die Rente angewiesen bin. Ebenso bedaure ich, dass diese Rente mir nicht das Leben ermöglicht, für das ich jetzt Zeit hätte. Ja, ich bedaure, dass ich nicht in der Lage bin, so wie andere Menschen zu empfinden. Es gibt so viel zu bedauern. Ich bedaure, dass ich immer so überempfindlich bin. Auch bedaure ich, dass ich mich noch immer auf die Anerkennung und Bestätigung durch andere Menschen angewiesen sehe. Ich bedaure, dass ich oft so unentschlossen bin und ich bedaure, dass Angst eine so große Rolle spielt in meinem Leben. Ich bedaure, dass…

Bedauern heißt festzuhalten

„Ständiges Bedauern und Depression“ heißt der Titel dieses Beitrages. Und in der Tat, es fällt mir nicht schwer, die Dinge zu listen, die ich zu bedauern habe. Fairer Weise müsste es auch eine Aufzählung geben mit dem Titel „Ich bedaure nicht!“, aber das soll ja jetzt nicht Thema sein, obschon mir auch da einiges einfallen würde. Hier soll es heute einmal ausschließlich um das Bedauern und die damit verbundenen möglichen Auswirkungen auf die Depression gehen. Hier soll es um Altlasten gehen,  Altlasten die ich noch immer mit mir herumschleppe. 

Das Wort „Bedauern“ ist eine Ableitung von „Dauern“ und stammt vom lateinischen Begriff „durare“ = fortdauern, aushalten ab. Und ohne dass mir dieser Zusammenhang klar war, finde ich, passt diese Bezeichnung sehr gut zu dem, was ich zum Ausdruck bringen will. Wenn ich etwas bedaure, dann währt etwas fort. Es ist ein Gefühl, dass auf Dauer da ist. Ich halte an etwas fest, zumeist an der Vergangenheit. Das können Wünsche sein oder Erwartungen, aber auch Überzeugungen oder Wertvorstellungen. So halte ich fest daran, dass ich einmal eine Mutter hatte und eine Oma, die ich liebte und die für mich da waren.

Ich halte fest daran, dass eine Familie gefälligst glücklich zu sein hat und zusammen halten muss. Ferner halte ich fest daran, dass man der Allgemeinheit nicht auf der Tasche liegen darf und ich halte fest daran, dass ich nicht okay bin, wie ich bin. Ich sollte eigentlich ganz anders werden, wie es mein Vater einmal formulierte, aber der Tod meiner Mutter…

An all diesen Dingen und Glaubenssätzen halte ich fest. Ich bedaure, dass all dies so ist wie es ist. 

Bedauern = dauernd trauern

Bedauern ist eine Form der Trauer. Ich bin traurig über etwas. Mir wurde etwas genommen, das mir wichtig war oder es wurde mir gar nicht erst gegeben. Ich bin also traurig darüber, dass bestimmte Bedürfnisse nicht oder nicht mehr erfüllt wurden und offenbar bis heute nicht erfüllt sind. Ja, wie soll das auch gehen? Meine Mutter ist schon weit über 50 Jahre tot. Niemand kann eine Mutter ersetzen, nicht wahr? Vielleicht ist es diese Endgültigkeit, die mich zu solch einem Bedauern veranlasst, der Umstand, dass daran nichts mehr zu ändern ist, egal was ich auch tue? Ist es diese Ohnmacht, die in Wirklichkeit mein Bedauern hervor ruft? Oder habe ich damals einfach nicht richtig getrauert? Aber was weiß ein Kind auch, wie man richtig trauert? Ich tat, wie man mir sagte: „Sei nicht traurig.“

Phasen der Trauer

Die Trauer kennt verschiedene Phasen, die alle durchlebt werden müssen. Durch die Trauer muss man hindurch gehen, wie durch einen Fluss von Tränen. Die Phasen der Trauer sind:

  1. Leugnen, nicht wahr haben wollen
  2. Intensive aufbrechende Emotionen
  3. Suchen, Finden, Loslassen
  4. Akzeptanz und Neuanfang

Und wenn ich mir die vier Phasen so ansehe und dann dahin schaue, wo ich etwas zu bedauern habe, dann sind es jeweils die Punkte in meinem Leben, wo ich nicht richtig trauern konnte oder wollte, wo ich lieber verdrängte oder Zuflucht in der Vergangenheit suchte. Es sind genau die Ereignisse oder Umstände, die ich bis heute nicht wirklich akzeptieren konnte, um einen Neuanfang zu ermöglichen. Nicht ich halte bewusst das Alte fest. Ich will das gar nicht. Das Alte hält mich fest, weil mir eben nicht bewusst ist, was ich da tue. Weil ich es mir nicht bewusst machen will oder wollte oder konnte. Ich bin total verstrickt in meine Vergangenheit, kein Wunder eigentlich, dass ich in der Gegenwart gar nicht recht ankommen kann! Ich bin verstrickt mit anderen Menschen, deren Erwartungen, meinen eigenen Erwartungen und einer gehörigen Portion „Du bist Schuld, Benno!“. 

Bedauern Trauer und Schuld

Ich denke Bedauern hat auch immer etwas mit Schuld zu tun, jedenfalls drängt sich mir dieser Verdacht gerade auf. „Du hast Schuld, Benno!“ Eine Frechheit eigentlich, nicht wahr? Ich bin doch nicht schuld! Nein, ich bin doch nicht schuldig geworden. Ich habe immer versucht, das Richtige zu tun. Okay, nicht für jeden wird es auch immer das Richtige gewesen sein, aber ist das eine Schuld, im Sinne von „ich habe mich schuldig gemacht“? Bin ich schuldig geworden? Bin ich etwa schuld daran, dass meine Mutter starb? Oder bin ich Schuld daran, dass der Kontakt zu meiner Ursprungsfamilie so armselig ausfällt? Maximal bin ich doch mit-verantwortlich, oder? Aber eine Schuld ist das nicht, denke ich. Ich bin auch nicht schuld daran, dass ich Depressionen bekommen habe, auch hier bin ich maximal mit-verantwortlich.

Ich habe niemanden ausgeraubt, erschlagen, vergewaltigt oder gefoltert. Woran soll ich also Schuld sein? Ich bin nicht schuldig. Verantwortlich ja, und dazu will ich auch stehen. Ich bin verantwortlich für das, was ich denke und rede und tue. Ich bin verantwortlich für das, was ich fühle und ich bin verantwortlich für das, was ich unterlasse. Doch Schuld habe ich nicht auf mich geladen, nicht einmal als ich mich von meiner ersten Frau scheiden ließ und somit eine Familie zerriss. Ich bin mit dafür verantwortlich. Das ist richtig. Aber schuldig? Ich war krank. Ich hätte es anders vermutlich nicht überlebt. Ist das eine Schuld? Warum also plage ich mich noch heute, viele Jahre danach, damit herum? Weil ich bedaure? Ja, vermutlich weil ich bedaure und nicht richtig getrauert habe…

Traurigkeit Vergebung und Freiheit

Da gebe ich mir doch lieber selbst die Schuld und zwar ein Leben lang. Nicht einmal ein Schwerverbrecher muss wirklich lebenslang büßen für seine Taten. Nach fünfzehn Jahren ist er normalerweise wieder frei. Aber ich tue das freiwillig, marschiere immer wieder unaufgefordert in mein selbst errichtetes Gefängnis aus Vorwürfen, Schuld und Bedauern. Ich nehme mir selbst die Freiheit für einen wirklichen Neuanfang. Ich nehme mir selbst die Freiheit, zu leben. Das alles erklärt viel, finde ich und macht deutlich, weshalb ich noch immer mit einem Bein in der Depression fest stecke. Ich kann nicht loslassen. Ich halte noch immer an der Vergangenheit fest.

Nur zu dumm, dass ich an der Vergangenheit nichts mehr ändern kann. Die Geschichte ist geschrieben, der Drops gelutscht, wie es so schön heißt. Vielleicht ist das ja auch der Grund für meine permanent gefühlte Ohnmacht? Es sind die falschen Götter, die ich hier anbete. Falsch, weil es die Götter der Vergangenheit sind. Es wird Zeit, dass ich mich langsam einmal mit der Gegenwart befasse, mit meiner Gegenwart, sonst wird die Zukunft dafür sorgen, dass auch die Gegenwart wieder nur zur Vergangenheit wird.

Nein, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Und sollte ich jetzt etwas nicht sehen können, vielleicht doch eine Schuld, die ich womöglich nicht wahr haben will, auch dann sollte mir irgendwann vergeben werden können, sollte ich mir irgendwann vergeben können. Eines ist jedenfalls sicher: Allzu viel Zeit bleibt mir nun auch nicht mehr, mit einem Leben in Freiheit zu beginnen.

Ich denke, morgen wäre ein guter Tag, damit anzufangen…

Quellen zu „Depression Trauer und Bedauern
Trauerphasen: trauerphasen.de   Foto: stadelmann werner / pixelio.de

ich bedaure

Das könnte dich auch interessieren …