Verdeckte Aggression bei Depression

Depression und Aggression

Aggression, abgeleitet von lateinischen Wort „aggressio“ bedeutet soviel wie sich nähern, angreifen. Es ist ein sowohl bei Tieren als auch bei Menschen bekanntes Verhaltensmuster. Bei Tieren dient es hauptsächlich der Gewinnung oder Erhaltung von Ressourcen, wie etwa der Inbesitznahme eines Jagdreviers oder der Erringung der Alphaposition in der Herde zur Erreichung einer effektiveren Weitergabe von Genen. Nun, mehr oder weniger Tier haben wir Menschen ja auch in uns. Mag jeder selbst beurteilen, ob solche Ursachen Aggressionen bei ihm auszulösen können. Die Wissenschaft ist der Meinung, dass Aggressionen beim Menschen durch negative Emotionen ausgelöst würden. Aggressionen beim Menschen träten demnach immer nur gefühlsbedingt auf. Es seien die weniger beliebten Gefühle und Empfindungen, die meist zur Aggression führen, wie etwa Hitze, Kälte, Schmerz, Angst, Ärger, Wut, Neid, Eifersucht, oder Frustration.

Dabei kenne die menschliche Aggression verschiedene Formen. Aggression könne offen ausgetragen werden durch körperliches Bedrohen oder aber auch durch die direkte Anwendung von Gewalt. Aggressionen seien gegen Mensch, Tier und Sachen möglich. Auch die bewusste Verunreinigung von Objekten werde als Aggression gewertet. Wenn sich die Aggression gegen die eigene Person richte, spricht man von Autoaggression. Aggressionen können zum Beispiel auch einfach nur verbal zu Tage treten, etwa in Form von Beschimpfungen, Beleidigungen, oder einem Redestil, die darauf abzielt, dem Gegenüber einfach nur weh zu tun. Es gibt offene, aber auch verdeckte Aggression.

Verdeckte Aggression

Die offene Aggression ist relativ leicht zu erkennen. Eine viel spannendere Form der Aggression ist die verdeckte Aggression. Ich glaube, dass gerade die verdeckte Aggression häufiger bei depressiven Menschen anzutreffen ist. Depressive sind eigentlich nicht diejenigen, die sofort zum Angriff übergehen. Sie regieren eher zurückhaltend auf eine Bedrohung. Ihr Ego hat gelitten im Laufe der Jahre und so erlauben sie sich nicht so schnell, mal eben in den Kampfmodus zu wechseln. Oftmals kommt eine Erziehung hinzu, die meist darauf abzielte, einen bescheidenen, zurückhaltenden, freundlichen, gütigen, liebenswerten, liebevollen, zuverlässigen, fleißigen, hilfsbereiten – die katholische Kirche nennt so etwas einen Heiligen – Menschen zu formen. Wie passt da Aggression hinein? Überhaupt nicht! Also wird sie unterdrückt. Sie darf nicht sein, also gibt es sie nicht.

Der erfolgreiche dänische Familientherapeut Jesper Juul beschreibt in seinem Buch Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist das Tabu Aggression und warum Aggressionen als nicht gesellschaftsfähig gelten. Noch heute wird Kindern die Aggression regelrecht aberzogen, mit fatalen Folgen, wie man später feststellen wird. Er vertritt die Auffassung, dass Aggressionen sehr wichtige Emotionen sind, die wir entschlüsseln müssen. Anderenfalls, so Juul, setzen wir unsere geistige Gesundheit, unser Selbstwertgefühl und das natürliche Selbstvertrauen unserer Kinder aufs Spiel. Er appelliert an einen konstruktiven und positiven Umgang mit einem für uns Menschen so wichtigen Gefühl wie der Aggression.

Meine verdeckte Aggression

Ich bin doch nicht aggressiv! Ich doch nicht! Nein, im ernst, ich habe mich nie als einen aggressiven Menschen betrachtet. „Man kann doch über alles reden?“ Ich glaubte das von mir. Ich war überzeugt, aus tiefstem Herzen freundlich und eben nicht aggressiv zu sein. Und so geschah es, dass ich irgendwann meine Aggressionen nicht mehr wahr nahm. Ich hörte mich nicht mehr herumschreien zu Hause, denn es waren ja die Kinder, die zuvor laut waren. Ich spürte mich nicht mehr, wie ich auf den Tisch schlug, denn ich wollte ja nur eine unangenehme Situation beenden. Wenn eine Tür einmal laut hinter mir zuschlug, dann wollte ich das eigentlich gar nicht so doll.

Meine schlimmste offene Aggression

Aber die schlimmste Aggression, die ich je an den Tag legte, war meine Kinder zu schlagen wenn sie ungehorsam waren. Und auch das sah ich nicht als Aggression, sondern als Erziehungsmaßnahme, zu der ich schließlich als guter Vater verpflichtet war. Ich selbst wurde so „erzogen“ und wer dazu nicht in der Lage war, seine Kinder zu züchtigen, der ließ sich auf der Nase herum tanzen, war kein richtiger Mann, wie es hieß. Und natürlich wollte ich ein richtiger Mann sein, am besten so einer, wie mein Vater war, obwohl das unerreichbar schien.

Irgendwann begriff ich, was ich da tat, aber da war ich schon über dreißig. Ich habe meine Kinder misshandelt. Mit dieser Schuld muss ich heute leben. Ich habe es nicht besser gewusst, aber für denjenigen, der die Schläge abbekommt, macht das keinen Unterschied. Ich kann es heute nicht mehr ungeschehen machen, aber ich kann mithelfen, dass Kindern jetzt und in Zukunft solches Unrecht nicht mehr geschieht.

Wie du siehst, bin ich also ein zutiefst friedlicher Mensch ohne jegliche Aggressionen. Aggressionen sind böse. Das habe ich gelernt und böse bin ich nicht. Das dumme an der Geschichte ist nur, dass dies meine Aggressionen nicht interessiert. Sie sind einfach da. Sie sind sozusagen kurz verdrahtet. Wenn der Mensch in einer Bedrohungssituation erst noch lange überlegen müsste, was er tun soll, würde das seine Überlebenschancen auch sicher nicht erhöhen. Und das doppelt Dumme daran ist, ich kann sie in der Situation zumeist nicht sehen. Sie sind verdeckt, verschüttet, vergraben.

Aggressionen belasten die Beziehung

Ich glaube heute, dass mich meine verdeckte Aggression meine Beziehung gekostet haben. Die Aggressionen waren da, also traten sie auch zu Tage. Für mein Gegenüber waren sie sichtbar. Für meine Frau waren sie mehr als sichtbar. Sie wies mich mehrfach darauf hin. Da ich aber anderer Meinung war in diesem Punkt, machte mich diese für mich haltlose Unterstellung – du ahnst es schon – erst richtig aggressiv. Aber daran war sie ja nun selbst schuld. Vorher war ich ja friedlich. Wenn du etwas nicht sehen willst an dir dir, dann siehst du es nicht. Das nennt man Verdrängung und im Verdrängen bin ich ein wahrer Meister. Nur erweise ich mir keinen guten Dienst damit. Diese Aggressionen, überhaupt alle sogenannten negativen Gefühle sind doch auch ein Teil von mir? Sie gehören zu mir und machen mich aus. Sie wollen angenommen werden werden.

Ich glaube, ich brauche diese Anteile, um zu einem inneren Frieden finden zu können. Früher unterteilte ich alles in schwarz und weiß, in gut und böse. Das war einfach und so schien mir die Welt begreifbar. Ich musste fast fünfzig Jahre alt werden, um zu anderen Einsichten zu gelangen. Heute weiß ich, gut und böse ist in jedem Menschen,  auch im Papst, dem Dalai Lama und Menschen wie Mutter Theresa und Nelson Mandela. Niemand ist nur gut und niemand ist böse. Alle Menschen tragen alles in sich und je mehr wir uns dessen bewusst sind, je mehr wir uns kennen, um so ausgeglichener können wir sein, umso eher haben wir eine wirkliche Möglichkeit uns zu entscheiden, so oder so zu reagieren. Aggressionen  sind nicht per se schlecht, wir sollten nur auch wissen, was wir tun.

Die Einsicht kam zu spät

In meinem Fall kommt die Einsicht zu spät. Meine Frau und ich leben seit Jahren getrennt. Aber wie hätten wir auch eine Lösung für unser Beziehungsproblem finden sollen, wo ich doch gar nicht aggressiv war? Ich schreibe das hier auf, nicht weil ich jetzt etwa Experte in Beziehungsangelegenheiten bin, denn wenn dies so wäre, würde ich ja in einer tragfähigen Partnerschaft leben. Ich schreibe das hier auf, weil es vielleicht die eine oder andere Partnerschaft vor dem Aus bewahren kann, nämlich dann, wenn du erkennst, an welchen Stellen du aggressiv wirst. Partner von depressiven Personen haben es ohnehin schon schwer genug, aber wenn sie am Ende auch noch angefeindet werden von dem Menschen, für den sie sich aufopfern, dann brechen auch sie oft zusammen. Dann haben sie einfach nicht mehr die Kraft, weiter zu gehen.

Sag Ja zu deiner Aggression!

Es kann sicher nicht darum gehen, die eigenen Aggressionen völlig weg zu machen. Aggressionen gehören zu uns Menschen. Die Frage ist nur: Wo und wie setzen wir sie ein? Aggressionen entstehen oftmals an Stellen, wo wir sie nicht heraus lassen wollen oder können, etwa auf der Arbeit, dem Chef gegenüber, während des Besuchs bei der Schwiegermutter, beim Gespräch mit einem ordnungsliebenden Nachbarn oder auch einfach weil wir in Eile sind und uns schon dreimal gestoßen haben und das Rasierwasser ist auch noch runter gefallen.

Jeder kennt solche Situationen. So. Und wer, glaubst du, kriegt wohl die dazugehörigen Aggressionen ab? In aller Regel doch der, von dem wir am wenigsten zu befürchten haben, oder? Es wird einer der Menschen sein, die uns lieben und zu schätzen wissen. In aller Regel ist es der Partner, falls es einen gibt. Und hat er das verdient? Mitnichten hat er das. Hier läuft eine Menge schief.

Verdeckte Aggression schaukelt sich auf

Nicht die Aggression an sich ist schlecht, aber dass wir sie an den richtigen Stellen unterdrücken und an den völlig falschen Stellen heraus lassen, das ist ein Problem. Hinzu kommt, dass sich unterdrückte Aggressionen meiner Meinung nach mit der Zeit auch noch aufschaukeln. Wenn ich erst einmal ärgerlich bin, ziehe ich weiteren Ärger an. „Ausgerechnet, wenn ich es einmal eilig habe, ist diese blöde Ampel auf rot! Und dann ist auch noch der Bahnübergang zu! Das ist doch zu Haare raufen! Ich komme zu spät zur Arbeit und kriege erst mal ein paar dumme Sprüche meiner „Lieblingskollegen“. Und dann ruft auch noch Herr Oberschlau an…“ Du kennst sicher auch solche Tage. Am Ende bist du voll gepumpt mit Adrenalin und wer kriegt es ab?

Es sind unsere Masken, unsere verschiedenen Rollen, die wir tagsüber spielen, und die es uns nicht erlauben, die eine oder andere Aggression sofort auszuleben. Dabei wäre das nur ehrlich und zwar nicht immer auf den ersten Blick, doch im weiteren Sinne durchaus auch zweckdienlich. Wir Menschen sind doch alle so und spielen uns etwas vor. Wozu soll das gut sein? Besser gleich reinen Tisch machen und danach wieder freundlich durch’s Leben gehen.

Manchmal reicht es schon, einmal kräftig zu fluchen. Oder schrei einmal laut, wenn du im Auto sitzt! Auf alle Fälle lass deine Aggressionen nicht an Menschen aus, die damit nichts zu tun haben, denn dies erzeugt nur neue und wieder neue Aggressionen. Sag ja zur Aggression. Benutze sie als Mittel zur Abgrenzung. Ziehe deine Grenzen damit: Bis hierhin und nicht weiter! Dafür sind Aggressionen gut. Aber verschwende sie nicht weiter an völlig unbeteiligte Menschen. Sie werden es dir danken und es wird auch dir selbst gut tun, da bin ich mir sicher…

Quellen zu „Aggression und Depression“
Foto: S. Hofschlaeger / pixelio.de

Aggression bei Depression

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