Ohnmacht – Das eigentliche Monster der Depression
Jeder von uns kennt wohl das Gefühl der Ohnmacht und weiß, wie ausliefernd es sein kann, sich ihr hinzugeben. Die Ohnmacht gehört zur Depression genauso dazu wie die ihr vorangehende Überforderung. Doch oftmals ist es so, das gerade die Ohnmacht den Ausweg versperrt und die Menschen sich dann in suizidales Verhalten flüchten, weil sie einfach nicht mehr weiter wissen. Es ist daher wichtig, dass wir auf unsere Gefühle achten, besonders aber auf dieses eine, dessen sich dieser Beitrag hier einmal ganz besonders widmen will – der Ohnmacht.
Das Gefühl der Gefühllosigkeit
Die Depression zählt laut ICD-10, dem internationalen Katalog der WHO, zu den affektiven Störungen. Affekte, das sind nichts anderes als Gefühle und eben diese Gefühle machen mir als Betroffenem zu schaffen, überfordern mich immer wieder einmal. Auch wenn Depressive oftmals verlangsamt, teilnahmslos und desinteressiert wirken, so tobt es doch regelrecht in ihnen. Manchmal sind bei mir so viel Gefühle auf einmal da, dass es für mich selbst eine Schwierigkeit darstellt, ein einzelnes Gefühl benennen zu können. Manchmal sind die Gefühle derart heftig, dass es mich zu zerreißen droht. Wenn das passiert, stellt sich infolge ein Gefühl der Leere, ein Gefühl der Gefühllosigkeit ein. Das ist gleichsam ein Schutz, der den Dauerstress für Körper, Seele und Geist eine Zeit lang zu unterbrechen versucht.
Zu viele Gefühle
Nein, zu wenig Gefühl kann man depressiven Menschen gewiss nicht unterstellen, dann doch eher ein Zuviel. Oftmals habe ich diese Tatsache verflucht und wünschte mir ein dickeres Fell. Ach wäre ich doch wie dieser oder jener, dachte ich, und würde mir nicht alles so zu Herzen nehmen. Oder ich dachte: „Ach wäre ich doch eine Blume und blühte einfach und die Welt hätte Freude an mir.“
Wenn mich meine Gefühle überfordern, ich nicht mehr ein noch aus weiß, dann ist das wohl auch eine nachvollziehbare Reaktion, sich ein dickeres Fell zu wünschen. Allerdings brächte ich mich auf diese Weise auch um die vielen tiefempfundenen schönen Augenblicke meines Lebens. Das aber sind Augenblicke, die ich ganz gewiss nicht missen mag, die ich auch heute und morgen wieder erleben kann und die mein Leben so sehr lebenswert machen. Ich brächte mich um Erfahrungen mit Menschen, die mein Herz berühren und letztlich brächte ich mich so womöglich um den Zugang zu mir selbst.
Am Anfang war der Mangel
Zum Glück halten solche Situationen der Überforderung nicht an und die Wogen glätten sich wieder mit der Zeit. Kein Gefühl bleibt auf Dauer. Gefühle kommen und gehen. Gefühle sind unsere Diener. Sie haben einen Auftrag, den sie erfüllen müssen. Gefühle zeigen uns an, was wir brauchen und was nicht. Sie zeigen uns an, welche Bedürfnisse wir haben und helfen uns auf diese Weise, gut für uns zu sorgen. Wird das entsprechende Bedürfnis erfüllt, verschwindet das Gefühl und ein anderes, gutes Gefühl tritt an seine Stelle. Wird ein Bedürfnis nicht erfüllt, verschwindet das dazugehörige Gefühl auch irgendwann, kommt aber nach einer Zeit wieder. Hierin allerdings ist es sehr zuverlässig, notfalls ein Leben lang.
Manchmal verstehen wir die Botschaften nicht, die uns unser Körper sendet, weil das auslösende Bedürfnis schon ein sehr altes ist und wir es im aktuellen Kontext nicht zuordnen können. Das sind dann die klassischen Situationen für Missverständnisse, Fehlkommunikation und neue Verletzungen. Meist versuchen wir, ein aktuelles Gefühl mit der aktuellen Situation zu erklären, aber oftmals hat diese Situation das betreffende Gefühl nicht hervor gerufen, sondern nur wiederbelebt. Oftmals sind die Bedürfnisse schon viele Jahre unerfüllt, nicht selten von Kindheit an. Und dann geht es meist um einen Mangel an Bestätigung, an Zuwendung, an Aufmerksamkeit, an Liebe. Es geht um einen Mangel an Verständnis, den Mangel, richtig wahrgenommen zu werden oder den Mangel an Vertrauen.
Ohnmacht – Die Mutter der Depression
Es ist nichts Schlechtes und auch nichts Falsches daran, Bedürfnisse zu haben und die passenden Gefühle dazu. Alle Gefühle dürfen sein, für eine Zeit. Vor einem Gefühl jedoch hüte ich mich inzwischen. Es gibt, wenn ich es mir recht überlege, eigentlich nur ein Gefühl, das mir wirklich gefährlich werden kann und dass sich wie jedes andere Gefühl auch noch selber nährt. Die Rede ist von der Ohnmacht. Werden Bedürfnisse nicht erfüllt und fehlt es mir in der entsprechenden Situation an der Aussicht, dass sich dies in absehbarer Zeit nachhaltig ändern kann, dann steigt der Dämon hervor aus der Tiefe und verschlingt alles, was noch da ist an lebensbejahenden Energien.
Die Ohnmacht ist das eigentliche Monster der Depression, nicht die Trauer, nicht die Angst, nicht die Lieblosigkeit, die Einsamkeit, die Scham und auch nicht die Schuld. Nicht der Teufel ist eine Gefahr für meine Seele, mit dem Teufel kann ich spielen. Mein wahrer Feind arbeitet subtil, aber äußerst effektiv. Hat sich die Ohnmacht erst einmal breit gemacht in meinem Bewusstsein, legt sie mich regelrecht lahm. Weder bin ich dann zu kreativen Lösungen fähig, noch habe ich die nötige Energie diese Vakanz gelassen hinzunehmen. Wenn es doch sowieso keinen Ausweg gibt, ja wozu dann das alles? Wozu der viele Schmerz? Wozu all diese Quälerei? Ich will nur noch, dass es aufhört, habe aber keine Idee, wie das geschehen könnte. Ich habe dann das Vertrauen in mich selbst verloren. Einer dauerhaften Lösung sehe ich mich dann außerstande. In solchen Situationen geben Menschen auf…
Wie kann ich der Ohnmacht entkommen?
1. Ohnmacht vergeht
Jeder von uns hat sich bestimmt schon mindestens einmal im Leben ohnmächtig gefühlt. Und wenngleich dies mit Sicherheit keine schönen Erinnerungen hervor ruft, lohnt es doch einmal, sich dessen bewusst zu werden, denke ich. Hierdurch wird nämlich deutlich, dass das Gefühl Ohnmacht, so überzeugend es im Moment auch sein mag, sich selbst ad absurdum führt. Denn wären wir wirklich ohnmächtig gewesen, hätte es tatsächlich keinen Ausweg gegeben, wie wir damals glaubten, könnten wir jetzt nicht darüber nachdenken. Auch das Gefühl der Ohnmacht ist ein Gefühl, ein Affekt und will uns etwas mitteilen.
Ohnmacht zeigt etwas an
Es zeigt uns zum Beispiel an, dass wir uns schon über die Maßen angestrengt haben und unser Vorrat an Kräften sich dem Ende neigt. Das Gefühl der Ohnmacht fordert uns auf, loszulassen, zu entkrampfen, zu entspannen, auszuruhen. Es will den Superspin unterbrechen, bevor der Kreisel auseinander fliegt. Die Ohnmacht ist von Haus aus nicht destruktiv, sie wird nur oftmals falsch von uns gedeutet. „Es hat doch alles keinen Sinn!“, „Das Leben ist ein Trauerspiel!“ oder „Die Welt ist ungerecht!“. Dann gibt es noch so Sätze wie „Niemand hat mich lieb!“ oder oder oder… Es sind solche Sätze, die sich dann in unser Bewusstsein schleichen, Sätze die wir selbst nie kreiert haben, aber die wir dann gebetsmühlenartig nachplappern, Sätze, die wir dann glauben mögen.
Destruktive Glaubenssätze
Ein Leben lang haben wir solche Sätze eingesammelt und weg getan, weil wir damit nichts anfangen konnten. Aber jetzt, jetzt holen wir sie hervor, jetzt geben wir ihnen Bedeutung. Es ist dabei völlig egal, auf welche Weise sie in unser Leben kamen, wer sie einst aussprach – jetzt machen wir sie zu unserer Wahrheit. Es ist unsere Entscheidung. Wir könnten auch anders damit umgehen, aber das tun wir nicht. Lieber glauben wir diesen Worten. Wir glauben ihnen mehr als wir an unsere eigenen Fähigkeiten glauben. Mehr als uns selbst vertrauen wir diesen unwahren Sätzen. Wir vertrauen einer Lüge und das kann eigentlich nicht gut ausgehen.
Sätze, die sich nicht gut anfühlen, sind zumeist auch nicht wahr. Oftmals erkennen wir Lügen intuitiv, merken das da etwas unstimmig ist, sich nicht gut anfühlt. Deshalb halte ich es für wichtig, sich einmal Zeit zu nehmen und solche Sätze nicht nur einfach abzutun, weil man gerade nichts damit anfangen kann, sondern sie auch eindeutig als Lügen zu kennzeichnen, damit wir in einer der nächsten Krisensituationen nicht wieder auf die Idee kommen, sie zu unserer Wahrheit zu machen.
2. Die Schuhe selbst angezogen
Wenn ich mir die Depression als ein Loch vorstelle, in das ich immer mal wieder hineinfallen kann, so könnte ich den Schuhen, mit denen ich auf dieses Loch zulaufe, den Namen Ohnmacht geben. Nun wird es wohl wenig helfen, mir immerzu einzureden, ich sei nicht depressiv, denn wenn ich depressiv bin, bin ich es nun einmal. Ich sitze dann bereits im Loch. Doch wie bin ich da hinein geraten? Ich hatte die falschen Schuhe an. Ich hatte keinen festen Halt mehr unter den Füßen, ich war unsicher im Gang. Aber ich habe mir diese Schuhe selbst angezogen.
Gestalter sein
Es mag Situationen geben, in denen wir als Mensch tatsächlich ohnmächtig sind und solche Situationen haben dann meist auch dramatische Folgen (Traumata), aber daraus besteht unser Leben nicht ausschließlich. In aller Regel können wir etwas tun. Einmal gefallen zu sein, bedeutet nicht zwangsläufig, nie wieder aufrecht gehen zu können. Wir sind nicht ohnmächtig. Ich bin nicht ohnmächtig. Du bist nicht ohnmächtig. Dieser Satz ist ein gutes Mantra. Diesen Satz können wir uns gar nicht oft genug sagen. Was wir da draußen in der Welt zu hören kriegen, was uns die Leute erzählen, was Medien oftmals kolportieren, entspricht nicht der Natur des Menschen, der als Gestalter seines Lebens mit allem ausgestattet ist, was er für ein glückliches Leben benötigt.
Die Macht nicht hergeben
Wir selbst haben die Macht über unser Leben. Das sollten wir uns nicht nehmen lassen, uns nicht ausreden lassen. Denn wenn wir dies tun, öffnen wir Menschen, die uns ausnutzen, benutzen und für ihre eigenen Zwecke missbrauchen wollen, Tür und Tor. Wir selbst sind die Gestalter unseres Lebens, kein Schicksal, kein Gott, kein Staat, kein Vater, keine Mutter, kein Partner, kein Nachbar, kein Kollege und kein Chef tut dies. Jeder gestaltet seine Wirklichkeit, Tag für Tag, Minute für Minute. Wir können dies kreativ tun oder aber unreflektiert von anderen übernehmen. Zu übernehmen ist vielleicht verlockend, weil einfach, aber ist es dann auch unser Leben? Entspricht unser Leben dann auch unseren Bedürfnissen?
Wenn sich der Gedanke der Ohnmacht das nächste Mal in meinen Kopf einschleichen will, werde ich ihn als Lüge erkennen und ihn des Hauses verweisen. Es gibt immer ein Morgen. Und es gibt immer eine Lösung. Es gibt immer Hoffnung. Der Weg reicht weiter, als ich ihn sehen kann. Darauf kann ich vertrauen…
Quellen zu Ohnmacht und Depression
Foto: pixabay.com