Die Macht der Vergangenheit
Was versteht man unter der Macht der Vergangenheit? „Ohne die Vergangenheit bist du sofort frei“, überschreibt der deutsche Psychologe Robert Betz einen seiner zahlreichen Vorträge. Das klingt verlockend, finde ich. Und sicher werden sich auch viele Menschen gerade für diesen Vortrag interessieren. Zunächst dachte ich auch: Ja, das ist es! Aber dann kamen mir doch recht schnell Zweifel in den Sinn. Können wir die Welt und uns selbst auf diese Weise richtig wahrnehmen? Wachsen und reifen wir nicht alle gerade durch unsere Erfahrungen? Ich grabe tiefer und stoße auf das Thema Selbstablehnung bei Depression. Aber was hat Selbstablehnung mit der Depression zu tun?
Ohne die Vergangenheit
Was wäre ich ohne meine Vergangenheit? Wollte ich tatsächlich noch einmal bei Null anfangen? Wir Menschen kommen alle als ein unbeschriebenes Blatt auf diese Welt. Kinder sind unschuldig heißt es. Das ist eine etwas seltsam anmutende Umschreibung dafür, dass sie noch keine Erfahrungen machen durften, noch nicht an ihnen wachsen und reifen durften. Sie können die Welt noch gar nicht richtig wahrnehmen. Was also wären wir ohne unsere Vergangenheit?
Wir würden tatsächlich wieder bei Null anfangen, nur unser Aussehen würden wir behalten. So müssten wir lernen, auf’s Töpfchen zu gehen und „Bitte Bitte“ zu machen. Wir müssten lernen, uns die Schuhe zu binden und vieles andere mehr. Alles müssten wir neu lernen. Was wäre das denn für eine Freiheit? Welches Kind wächst denn tatsächlich in Freiheit auf? Das schaffen wohl nur wenige, weil in den meisten Fällen ihre Eltern auch in innerer Unfreiheit leben.
Die Zeit der Kindheit ist eine Zeit größter Abhängigkeit und wenn sie nicht von Liebe, Verständnis und Geborgenheit getragen wird, dann entwickelt sie sich für diese Kinder zum Trauma ihres Lebens. Ein Trauma, unter dem sie noch als gereifte Erwachsene zu leiden haben. Denn der Teil der Seele, der als Kind verletzt wurde, kann sich nicht weiter entwickeln. Er hat sich vor der Welt verschlossen und kann sie deshalb auch nicht richtig wahrnehmen. Dieser Teil hat sich aber nicht nur vor der Welt, sondern auch vor ihren Besitzern verborgen. Die fühlen heute nur noch diesen diffusen Schmerz, der nie aufzuhören scheint. Für diesen Teil wäre es sicher gut, man könnte mal eben einen Reset-Button drücken. Aber so einfach ist das nicht. Alle Erfahrungen, die wir machten, haben uns wachsen und reifen lassen, haben uns zu dem werden lassen, der wir heute sind. Die Frage nach der Macht der Vergangenheit ist also eigentlich eine ganz andere:
Willst du anders sein?
Jetzt wird es schon spannender. Denn wenn ich die Frage „Willst du anders sein?“ bejahe, verbirgt sich dahinter ganz klar der latente Wunsch, einfach anders sein zu wollen, als ich bin. Vielleicht nur ein wenig anders? Oder auch ganz anders? Vielleicht auch wie eine bestimmte Person? Auf jeden Fall verbirgt sich dahinter die eigene Unzufriedenheit mit sich selbst. Es macht deutlich, dass ich nicht damit zufrieden bin, so wie ich in der Vergangenheit war.
Ich möchte anders sein
Vielleicht finde ich mich zu wenig attraktiv oder glaube, ich sei nicht redegewandt genug? Ja, vielleicht glaube ich von mir, ich sei ungeschickt oder zu wenig kreativ? Vielleicht halte ich mich für unmusikalisch? Womöglich halte ich mich gar für dumm, für unsensibel oder aber für zu empfindlich? Oder ich finde mich nicht liebenswert, zurecht nicht richtig wahrgenommen und unbeachtet von der Welt? Es kann viele Gründe dafür geben, weshalb ich anders sein möchte.
Wenn ich aber so über mich denke, wenn ich mich selbst nicht in Ordnung finde, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ich nach außen tatsächlich auch so wirke. Ein großer Teil meiner Aufmerksamkeit ist nämlich darauf gerichtet, mich und die Welt so wahrzunehmen, wie sie meiner Meinung nach ist. Doch nehme ich die Welt dann auch richtig wahr? Dort wo ich mit dem Scheinwerfer meiner bewussten Wahrnehmung hinleuchte, dort finde ich die Beweise für meine Annahmen. Ich suche Beweise und ich finde sie, ergo glaube ich, recht zu haben.
Zu sehr überzeugt
Leider suche ich keine Gegenbeweise, weil ich ja so sehr von meiner Meinung überzeugt bin. Denn auch die Gegenbeweise ließen sich finden. Allerdings setzten sie eine etwas andere (Scheinwerfer-) Einstellung, eine etwas andere Perspektive voraus. Die aber bin ich gerade nicht bereit, einzunehmen. Viel lieber sehe ich mich als Opfer meiner Zeit. Und solange ich mich selbst als Opfer begreife, bin ich es natürlich auch, hat die Vergangenheit Macht über mich.
Erst wenn ich damit beginne, mich gegen diese Rolle zu wehren, habe ich auch die Chance, mich und die Welt in einem anderen Licht zu sehen. Es ist nicht die Welt, die schlecht oder gut ist. Allein mein Blick auf die Welt ist es, der dieses oder jenes Abbild in mir hervor bringt. Es ist letztlich nur meine Bewertung, mein Urteil.
Die Welt richtig wahrnehmen
Wie kann ich die Welt richtig wahrnehmen? Finde ich die Welt schön während eines Sommerspazierganges in freier Natur, dann ist die Welt gerade schön. Finde ich die Welt grausam, weil ich meinen Blick auf Krankheiten, Kriege, Hungersnöte, Terror, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und andere kriminelle Machenschaften richte, dann erlebe ich die Welt als schlecht und verdorben. Aber nehme ich die Welt da auch richtig wahr?
Zu jeder Zeit gab es das Gute und das Schlechte. Schon immer haben sich Menschen geliebt und gehasst, beschenkt und bestohlen, waren zärtlich zu einander oder taten sich weh. Zu jeder Zeit wurden Menschen aneinander schuldig, aber vergaben sich auch die Schuld. Zu jeder Zeit töteten sich Menschen gegenseitig, aber zu jeder Zeit wurde auch immer wieder Leben gerettet. Wo will ich hinsehen? Was für eine Welt will ich haben? Ich entscheide es selbst. Die Welt liegt vor mir wie ein großer bunter Selbstbedienungsladen. Ich sehe mir alles an und nehme mit in mein Leben hinein, was ich für wichtig halte. Ich nehme die Welt wahr, wie ich es für richtig halte.
Das Meer aller Möglichkeiten
Ich bin wie die Welt oder die Welt ist wie ich, ein Meer aller Möglichkeiten. Alles was es in mir gibt, finde ich auch da draußen. Und alles was es in der Welt an Realem oder an Möglichkeiten gibt, das trage ich auch in mir. Ich bin ein Teil dieser Möglichkeiten. Ich bin nicht nur die Welle auf dem Ozean. Als Welle bin ich auch Teil des Ozeans. Als Welle bin ich auch immer der Ozean. Die Welt ist auch aus mir gemacht. Auch ich habe Gutes und Böses in mir, Liebe und Hass, Wohlwollen und Feindseligkeit, Habgier und Freigiebigkeit, Härte und Sanftmut. Auch ich verletze und heile, beschuldige und vergebe. Ich bin ein Mensch und all dies trage ich in mir.
Selbstablehnung und Depression
Womöglich will ich vieles davon nicht an mir haben? Womöglich lehne ich viele Eigenschaften an mir ab? Aber damit lehne ich auch immer mich selbst ab. Ablehnung ist immer auch Selbstablehnung eines Teils, den ich nicht an mir haben will, der aber unbewusst da ist. Ich begrenze mich, reduziere mich auf ein Ideal, das es so gar nicht geben kann. Wenn ich mich selbst beschneide, kann ich nicht glücklich werden. All das, was ich nicht an mir haben will, ist gezwungen, ein Eigenleben zu führen.
Ich will es nicht sehen und genau das wird auch passieren und mir mehr Schwierigkeiten im Leben bereiten, als mir lieb ist. Das ist die Folge von Selbstablehnung und kann eine Depression begünstigen. Nur weil ich etwas an mir nicht sehen will, ist es ja nicht weg. Andere Menschen sehen es sehr wohl und interagieren entsprechend mit mir. Nur wenn ich bereit bin, hinzuschauen und JA zu sagen, habe ich die Möglichkeit, steuernd einzugreifen. Gefühle, die ich an mir nicht haben will, werde ich niemals beherrschen können. Sie kommen über mich, wie ein Gewitterschauer. Kontrollieren kann ich nur, wessen ich mir bewusst bin und zu dem ich ein gutes Verhältnis habe. Nur dann kann ich an meinen Erfahrungen wachsen und reifen.
Dankbarkeit bei Depression statt Selbstablehnung
Inzwischen bin ich dankbar für meine Vergangenheit. Sicher lief nicht immer alles so ab, wie ich es mir gewünscht hatte. Sicher war nicht immer alles eitel Sonnenschein. Es gab auch dunkle Zeiten. Dennoch bin ich dankbar für jede Erfahrung, denn sie alle ließen mich zu dem werden, der ich heute bin.
Sind es nicht gerade die schmerzlichen Erfahrungen, die uns innerlich wachsen und reifen lassen? Wie wäre ich, wenn alles immer nur glatt gelaufen wäre in meinem Leben? Vermutlich ein regelrechter Kotzbrocken! Auch die Depression hat mich ein großes Stück weitergebracht. Sie lehrte mich, hinter die Kulissen zu sehen, die Oberfläche zu durchdringen und in die Tiefe des Seins zu gelangen. Die Depression lehrte mich, dass es noch mehr gibt als Leistung und Anerkennung, das Streben nach einem Ideal und dass es unendlich viel Wertvolles in mir gibt, das noch entdeckt werden will. Die Depression lehrte mich, dass Selbstablehnung ein Irrweg ist.
Demut vor dem Leben
Die Depression lehrte mich aber nicht nur, die Selbstablehnung als Fehler zu erkennen, sie lehrte mich auch die Demut vor dem Leben. Ich lebe heute viel bewusster als früher und gehe auch entschieden freundlicher mit mir selbst um. Ob man die Depression haben muss? Natürlich nicht generell, aber in meinem Fall war sie wohl von Nöten. Ich führte ein Leben auf dem Hochseil. Ich war ständig konzentriert, die Balance zu halten, die vorgegebene Richtung zu wahren und unter den Augen aller Zuschauer auch noch ein gutes Bild dabei abzugeben. Das war anstrengend, zu anstrengend.
Heute lebe ich auf dem Boden. Heute kann ich links herum oder rechts herum oder im Kreis gehen. Ich muss kein glitzerndes Kostüm mehr tragen. Heute darf ich sein, wie ich bin. Ich erlaube es mir. Aber ohne die Depression balancierte ich immer noch in luftiger Höhe, getrieben vom Ehrgeiz, besser zu sein und von der Angst, einen Fehltritt zu machen. Fehler bringen mich nicht mehr um, sondern voran. Sie erzählen mir etwas über mich und zeigen mir manches Mal sogar ungeahnte Alternativen auf. Ja, die Depression war unter dem Strich gut für mich. Sie zählt zu den schmerzhaften Erfahrungen in meinem Leben, die mich weiterbrachten, mich wachsen und reifen ließen.
Fazit zu „Macht der Vergangenheit“
Ich brauche keine andere Vergangenheit. Ich brauche genau diese, die ich hatte. Sie hat mich zu dem werden lassen, der ich heute bin. Was ich manchmal noch brauche, ist meinerseits ein liebevoller Blick auf das Geschehene, ein Ja zu dem, was war. Ablehnung vermag nichts zu ändern. Wie auch, es ist ja alles bereits geschehen. Annahme aber lässt mich erkennen. Sie öffnet mir Fenster zur Welt, zur Wahrheit und zu mir selbst. Sie lässt mich die Welt richtig wahrnehmen. Ob die Vergangenheit Macht über mich hat, kann ich nun selbst entscheiden.
Quellen zu „Selbstablehnung und Depression – Die Macht der Vergangenheit – die Welt richtig wahrnehmen – durch Erfahrungen wachsen und reifen“
Foto zu „Macht der Vergangenheit“: pixabay.com
Überarbeitet am 20.12.2024