Ich bin anders und das ist mein Problem
Was mich manchmal stolz werden lässt, droht mich ein anderes Mal in tiefe Abgründe stürzen zu lassen. Ich bin anders. Nicht nur, dass ich psychisch krank bin und eine Depression habe, ich habe auch viele gesunde Anteile, mit denen ich mich vom Rest der Welt zu unterscheiden glaube. Einmal ist es ein Fluch und ein andermal ist es ein Segen. In diesem Beitrag soll es um das Gefühl gehen, anders zu sein, um ein und denselben Auslöser mit entsprechenden Auswirkungen, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten.
Menschen wollen dazu gehören
Menschen sind verschieden. Das ist normal und jeder weiß das. Menschen ähneln sich aber auch, haben Gemeinsamkeiten oder stimmen zumindest in einigen ihrer Ansichten überein. Das erzeugt ein Gefühl des Dazugehörens, ein Gefühl der Gemeinsamkeit und in aller Regel streben Menschen dies auch an. Auch depressive Menschen tun dies. Seit ich jedoch mit Depressionen zu tun habe, empfinde ich deutlicher als sonst: Ich bin anders. Auch habe ich den Eindruck, dass ich nicht mehr dazugehöre. Irgendwie habe ich das Gefühl, „draußen“ zu sein.
Den alten Göttern abschwören
Mir ist schon klar, dass ich auch genau dies wollte, eben nicht mehr so weiter leben wollte, wie alle es taten. Ich wollte endlich Verantwortung übernehmen für mein Leben und nun liebevoller und sorgsamer mit mir selbst umgehen. Ich wollte den alten Göttern abschwören und mein Heil fortan in meiner inneren Mitte suchen. Mit achtundvierzig Jahren stellte ich einen Rentenantrag. Ich konnte seinerzeit nicht mehr und wusste auch nicht, wie ich hätte anders dem Hamsterrad Leistungsgesellschaft entkommen können. Nun ist ja irgendwie auch klar, dass jemand, der so etwas tut, sich also selbst aus der Gruppe der Durchschnittsdeutschen heraus nimmt, argwöhnisch beäugt wird. Wer abweicht, gerät nun einmal unter Verdacht. Wer anders ist, erregt Aufmerksamkeit.
Alles nur gespielt
Wenn du von der Norm abweichst, fragen sich die Menschen: Was mag das für ein Typ sein? Mit dem muss doch wohl etwas nicht stimmen? Vielleicht tut er ja auch nur so und ist in Wirklichkeit ein Drückeberger? Mindestens ein Mensch wird so von mir denken. Ich erinnere mich hierbei eines Gespräches mit einem ehemaligen Kollegen. Irgendwie war an jenem Tag die Stimmung nicht gut auf der Arbeit und ich brachte zum Ausdruck, dass das Leben doch ungerecht sei. Jetzt wo man noch könne müsse man die ganze Woche arbeiten und später, wenn man dann irgendwann in Rente wäre, dann wäre man alt und fertig mit der Welt. So wäre es eben. Man könne nichts machen. Als ein Teil dieser Gesellschaft könne man dem nicht entfliehen. Es sei denn, man machte einen auf „verrückt“ und ließe sich einweisen.
Da ich nach meiner Erkrankung verzog und all meine ehemaligen Kontakte hinter mir abbrach, weiß ich nicht wirklich, was Kollege heute über mich denken mag, aber wenn er so denkt, wie ich gerade skizzierte, dann kann ich es ihm eigentlich auch nicht verdenken. Die Vorlage kam ja schließlich von mir selbst.
Depression und „Das tut man nicht“
Andererseits muss man wirklich verrückt sein, sich mit Ende Vierzig so radikal aus der Gesellschaft zu beamen, oder? Doch aus heutiger Sicht war es die einzig richtige Entscheidung. Ich stand am Abgrund meines Lebens, davon bedroht, geradezu den Boden unter den Füßen zu verlieren. Heute habe ich wieder einen relativ sicheren Stand. Okay, das hatte auch seinen Preis. Ich musste die alten Wege verlassen und neue ausprobieren. Ich musste liebgewordene Gewohnheiten ablegen und ganz viele Sachen die „man tut“ oder „man nicht tut“ nun anders handhaben. Aber es hat sich gelohnt. Zwar habe ich noch immer Depressionen, aber ich fühle mich ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert. Inzwischen habe ich gelernt, mit meiner Depression zu leben. Ich weiß, dass ich anders bin, aber das ist okay so.
Ich bin anders und das wertet mich ab
Doch so gut alles zu sein scheint, ich wäre nicht wirklich depressiv, wenn ich nicht doch einen Nachteil dabei fände. Und so gibt es Tage, da fühle ich mich regelrecht ausgegrenzt. Es gibt Tage, da fühle ich mich draußen. Mir ist inzwischen bewusst, dass dies ein sehr altes Gefühl ist, dass wieder und wieder von mir belebt wird und dass es eigentlich mehr mit meiner Vergangenheit als mit meinem heutigen Leben zu tun hat, aber in dem Moment, da es in mir aufsteigt, ist dies unerheblich. Es fühlt sich einfach nicht gut an und ich kann gar nicht anders, als es dem aktuellen Moment zuzuordnen.
Auch ich möchte doch irgendwo dazu gehören? Aber an solchen Tagen habe ich für Gefühle des Dazugehörens keinen Platz. An solchen Tagen fühle ich mich allein, glaube, mich falsch entschieden zu haben, bedaure, wie alles ist, bedaure mich selbst und kann noch nicht einmal jemandem die Schuld geben, weil ich mich ja selbst in diese Situation hinein manövriert habe. Solche Tage sind einfach nur doof. Mein Anderssein wird zur Falle. Mein Anderssein wird zum Makel und verstärkt so noch meine Gefühle von Minderwertigkeit und Scham, von Hilflosigkeit und vom Verstoßensein. Ich nehme war: Ich bin anders. Und ich mache daran all mein Übel fest.
Ich bin anders und das wertet mich auf
An guten Tagen ist es genau das Gegenteil. Da kann ich stolz darauf sein, diesen oder jenen Schritt abseits der ausgetretenen Lebenswege gegangen zu sein. Da kann ich stolz auf mich sein. Es gefällt mir dann, anders zu sein. Denn wer will schon sein wie alle? Jemand sagte einmal. “ Wer tut, was alle tun, muss sich auch mit dem zufrieden geben, was alle bekommen.“ Damit jedoch wollte ich mich nicht zufrieden geben. Zwar hätte ich lieber einen anderen Weg, also nicht den über die Depression, nehmen wollen, aber im Ergebnis bin ich doch sehr zufrieden.
Heute kann ich endlich selbstbestimmt leben. Mehr und mehr gelingt es mir, alte Bande zu durchtrennen und wahre Freiheit zu gewinnen. Das tut so gut! Ich fühle mich anders und das macht mich stolz. Es macht mich besonders. Und an solchen Tagen da nährt mein Anderssein mein Selbstwertgefühl. An solchen Tagen profitiere ich eindeutig von meinem Anderssein. Ja, ich bin anders und das ist auch gut so!
Fazit zu Depression und „Ich bin anders“
Ein und dieselben Umstände können zu völlig entgegengesetzten Gefühlen führen, je nach Tagesform, nach Stimmung und nach möglichen Verbindungen zu ähnlichen Ereignissen. Es sind eigentlich niemals die Umstände, die mir das Leben schwer machen, sondern es ist immer nur meine Sicht darauf, meine Bewertung, meine Urteile. Und obwohl ich dies weiß, verfalle ich doch immer wieder darauf, meine Energie in die Veränderung dieser Umstände zu investieren. Immer soll es anders sein, als es gerade ist. Was für ein Stress?! Wie einfach könnte mein Leben sein, wenn es mir öfter gelänge, ein ehrliches Ja zum Leben zu sagen, zu dem, wie es gerade ist? Denn eigentlich, so mit etwas Abstand betrachtet, finde ich dieses mein Leben doch ganz okay.
Heute ist ein Tag, an dem ich eher bedaure. Heute ist so ein dunkler Tag. Aber es tut mir gut, das hier einmal aufzuschreiben und zu sehen, dass ein und dieselbe Wahrnehmung an verschiedenen Tagen zu ganz verschiedenen Gefühlen in mir führen kann. Es tut mir gut an Tagen wie heute, mich jener Tage zu erinnern, da mich mein Anderssein stolz machte. Und es tut mir gut, mich dessen zu vergewissern, dass auch solche Tage wiederkommen werden. Ich bin anders und dafür darf ich getrost dankbar sein auch mit meiner Depression.
Quellen zu Depression und „Ich bin anders“
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