Geschichte von der kleinen Seele

die kleine seele

Wie finde ich mein inneres Kind?

Geschichten werden seit jeher erzählt. Manchmal ist es eben einfacher, etwas in Bildern auszudrücken. Manchmal reicht eine sachliche Beschreibung einfach nicht aus, in Worte zu fassen, was gesagt werden will. Auch hier wird heute eine Geschichte erzählt, eine Geschichte über den verloren gegangenen Kontakt zum inneren Kind. Manch einer wird vielleicht zum ersten Mal von der „kleinen Seele“ lesen. Anderen wird diese Metapher vertraut sein. In jedem von uns steckt das Innere Kind und wer weiß, vielleicht macht sich ja der eine oder andere nach dem Lesen dieses Beitrags auch einmal auf die Suche nach seinem verloren gegangenem inneren Kind?

Die große und die kleine Seele

Es waren einmal eine große Seele und eine kleine Seele. Die wohnten beide im selben Haus. Die große Seele hatte schon viel erlebt. Geschichten konnte die erzählen, du magst es nicht glauben! Und wenn es ihr gut ging, erzählte sie gern. Schöne Tage hatte sie gesehen, hatte mit Sonnenstrahlen gebalgt, den Winden gelauscht und dem Meer, begegnete schon vielen freundlichen Gesichtern und hielt auch so manche Hand. Gelacht hat sie, die große Seele, und getanzt und manchmal da war sie sogar ein wenig betrunken vor Glück…

Die Schattenseiten

Auch die Schattenseiten des Lebens hatte die große Seele kennengelernt und im Laufe der Jahre das eine oder andere düstere Tal durchwandert. Wenn das so war, vergaß die große Seele manchmal die freundlichen Gesichter, vergaß das Lachen, das in den Pausenräumen hallte und auf den Fluren und glaubte, ihr Leben sei schon immer so gewesen, so dunkel und fröstelig. Die große Seele fürchtete sich dann und ihr wurde kalt, so kalt, dass auch kein noch so flauschiger Mantel sie zu wärmen vermochte. Zuerst bemerkte sie, dass ihre Hände kalt waren. Eigentlich waren die fast immer kalt, aber wenn es der großen Seele gut ging, störte sie das nicht. Manchmal waren ihre Hände so kalt, dass sie es vermied, jemanden zu berühren, denn sie schämte sich dessen.

Die kalten Füße

Richtig schlimm wurde es aber erst, wenn sich das pulsierende Rot auch aus ihren Füßen zurück zog. Es war dann, als wollte ihr Körper ihr sagen: „Deine Füße versorge ich nicht mehr. Sie haben dich hierhin und dorthin getragen. Sie hielten dich in Bewegung, ein Leben lang. Überall warst du schon und nirgends, nur zu dir selbst hast du noch nicht gefunden. Höre auf, davon zu laufen, dich abzulenken, auf der Flucht zu sein!“ Und er lenkte das Blut, das sonst wie selbstverständlich in die Füße floss, in den Bauch der großen Seele. „Fühl mal!“, sagte er, „Fühle einmal tief in dich hinein…“. Die große Seele fand das doof. Ihre Füße schmerzten und am liebsten hätte sie das bizarre Spiel sofort beendet. Aber dem geschah nicht. Die Füße blieben kalt.

Das Land gelebten Lebens

Was war bloß passiert? Wo war sie nur wieder unterwegs gewesen, die große Seele? Hatte sie sich etwa erneut verirrt in alten Sehnsüchten oder in Schuldgefühlen und Scham? War sie wieder einmal in das Land gelebten Lebens gereist, ohnmächtig, auch nur einen Deut daran ändern zu können? Ihre Augen blickten immer wehmütig in die Ferne, wenn dies geschah und sie wünschte sich, dass manches anders verlaufen wäre. Wenn sie sich dort aufhielt, die große Seele, in jenem Land der Erinnerungen, in das hinein ihr niemand folgen konnte, erlag sie immer wieder auf’s Neue dem Zauber dieser mystisch anmutenden Welt.

Jedesmal war sie einmal mehr versucht, die Geschehnisse umzulenken. Sie glaubte dann, nur eine kleine Kleinigkeit anders gemacht haben zu müssen, und alles wäre besser verlaufen. Und so suchte sie und suchte und lief immer tiefer in dieses Land hinein. Manchmal ging sie tagelang im Kreis, ohne es zu bemerken. Dann geschah es leicht, dass sie den Rückweg nicht mehr fand aus den Nebeln der Vergangenheit. Dann vergaß die große Seele völlig, wo sie war und wohin sie eigentlich wollte.

Die kleine Seele

Die kleine Seele blieb meist unbemerkt. Aber das kannte sie nicht anders. Ihre große Schwester hatte es schon immer sehr eilig gehabt mit dem Erwachsenwerden und gab sich nur ungern mit ihr ab. Der kleinen Seele tat dies weh. Zu oft erlebte sie schon, nicht gemocht zu werden. Zu oft fühlte sie, nicht richtig zu sein, fühlte sich ungeliebt, glaubte keinen rechtmäßigen Platz in dieser Welt zu haben. Das alles machte die kleine Seele sehr traurig. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als ein richtiges Zuhause, einen Ort wo sie sein durfte, wie sie war. Aber das schien es nicht zu geben für die kleine Seele und so zog sie sich mehr und mehr zurück.

Verschollen

Niemand wusste so recht, wo sie sich aufhielt. Manchmal noch tauchte sie blitzartig auf, doch sobald man ihrer gewahr wurde, verschwand sie schnell wieder, ebenso schnell, wie sie erschienen war. Keiner ahnte, wie die kleine Seele wirklich aussah. Sie ließ sich einfach nicht mehr ansehen. Wenn sie dann so zurückgezogen in ihrem Kämmerlein saß, dann träumte sie oft davon, zu singen und zu spielen. Sie sah sich hüpfen und tanzen und allerlei Unfug treiben. Die kleine Seele mochte Späße sehr gern und kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen, wenn der Lachknopf erst einmal gedrückt war. Was wollte sie alles anstellen! Am meisten reizte es sie, verbotene Dinge zu tun.

Sie verstand überhaupt nicht, weshalb man ihr nicht erlauben wollte, die Welt mit all ihren Farben und Schatten zu entdecken. Am allerwenigsten mochte sie den Satz „Das macht man nicht!“ Man, man, man, als ob sie man wäre? Wer wollte schon man sein? Die kleine Seele jedenfalls nicht. Sie fühlte sich unverstanden und das war sie wohl auch. Wie sehr wünschte sie sich schon immer eine Hand, die sie halten würde. Wie sehr wünschte sie sich Augen, in die sie sehen dürfte und eine Schulter, sich anzulehnen? Ja, irgendwie war sie zwar da, die kleine Seele, aber niemand schien sie haben zu wollen…

Zwei Schwestern

Eines Tages jedoch, als die große Seele wieder einmal diesen fernen Blick hatte, geschah etwas Merkwürdiges. Die große Seele erinnerte sich plötzlich ihrer kleinen Schwester. Nur verschwommen sah sie sie vor sich. Irgendwie war das alles schon verdammt lange her, dachte sie. Ja, die kleine Schwester. Wann hatte sie sie das letzte Mal gesehen? Sie dachte lange nach. Da gab es einmal eine Situation, da war die kleine Seele wütend gewesen. Sie hatte nicht bekommen, was man ihr versprach und wollte gerade lautstark ihren Unmut zum Ausdruck bringen, als man ihr eine schwere Decke überwarf.

Fast erstickt wäre die kleine Seele damals. Oder ein anderes Mal, da war sie so albern, so fröhlich und laut, dass es der großen Seele unangenehm war und sie der kleinen Schwester verbot, sich so aufzuführen. Noch ein anderes Mal, die große Seele erinnerte sich jetzt ganz genau, da war die kleine Seele so neugierig gewesen, wollte wissen, wollte begreifen, wollte erspüren, stellte Fragen über Fragen. Die große Seele jedoch schämte sich ihrer einfältigen kleinen Schwester und schalt sie, sofort mit diesen dummen Fragen aufzuhören. Peinlich wäre das! Nein, die große und die kleine Seele waren nicht wirklich gute Geschwister und so wundert es wohl niemanden, dass ihre Wege sich irgendwann für immer trennten.

Im selben Haus

Und so saßen sie nun da, die große Seele mit dem fernen Blick und die kleine, vergessene Seele in ihrem Kämmerlein. Beide wohnten im selben Haus und waren sich doch schon so lange nicht mehr begegnet. Da beschloss die große Seele, sich auf die Suche nach ihrer kleinen Schwester zu machen. Anfangs wusste sie nicht so recht, wie sie suchen sollte. Sie suchte nach Neugier, aber das Zimmer war leer. Auch suchte sie nach Hoffnung, doch auch dieses Zimmer schien schon lange unbewohnt zu sein. Nach Unbeschwertheit suchte sie, nach Einfalt, nach Keckheit und nach Vertrauen. Sie suchte nach Lebenshunger, nach Wissensdurst und nach Fröhlichkeit. Aber wo sie auch suchte, die kleine Seele schien es nicht mehr zu geben. Schon lange ward sie nicht mehr gesehen.

Sehnsucht nach Ganzheit

Ob sie inzwischen gestorben war? Bei diesem Gedanken wurde die große Seele sehr traurig und begann zu weinen. Sie saß da und weinte bitterlich, weinte über all den Schmerz, den sie schon so lange mit sich herum trug und weswegen sie schön längst hätte einmal weinen sollen. Aber das hatte sie sich nicht erlaubt, die große Seele. Sie wollte ja stark sein, sich nichts anmerken lassen. Als sie nun so da saß und weinte und die Tränen über ihr Gesicht rollten und in großen Tropfen auf dem Boden zerbarsten, da hörte sie wie von fern ein leisen Schluchzen. Sollte das..? Nein, sicher hatte sie sich verhört. Das konnte nicht sein! Und sie schloss die Augen wieder, sich ganz ihrer Trauer hinzugeben. Was war nur aus ihr geworden? Da saß sie nun und wusste nicht mehr ein noch aus…

Ankommen

Als sie dann irgendwann wieder aufsah, erblickte die große Seele ein kleines Mädchen vor sich. Es stand still da und schaute sie mit großen Augen an. Und als ihre Blicke sich trafen, da war es, als lösten sich tausend Bänder um ihr Herz, als brächen Mauern ein und Flüsse stiegen über die Ufer. Als ihre Augen sich begegneten, da wussten beide, wie sehr sie sich ein Leben lang vermisst hatten. Und die große Seele reichte der kleinen Seele ihre Hand und bat sie zu sich auf den Schoß. Sie drückte sie sanft an sich und wog sie hin und her und goß all ihre Liebe über sie aus.

So saßen sie lange da und waren beieinander und die Zeit hörte auf zu existieren. Sie mussten sich nichts sagen. Unausgesprochen wussten sie alles und schworen sich im Stillen, fortan keinen Tag mehr ohne den anderen leben zu wollen. Und so hielten sie es denn auch. Sie hatten ein Zuhause gefunden…

Quellen zu „Das innere Kind“

Foto: pixabay.com

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