Wohin mit der Wut?

Wut

Die eigene Wut wird von Depressiven oft verneint.

Wut oder gar Aggressionen sind Begriffe, die depressive Menschen gern weit von sich weisen. Es passt einfach nicht in ihre Vorstellung von der Depression und zu ihrer Selbstwahrnehmung. Während meiner ersten Gruppentherapie war die die Frage nach der Wut einzelner Patienten deshalb auch eine der meist gestellten Fragen, wurde aber jedesmal ausnahmslos verneint. Bei genauerem Hinsehen quillt ihnen der Zorn jedoch gleichsam aus allen Knopflöchern. Und gerade weil sie sich diesen Zorn nicht erlauben, werden sie ihn auch nicht los: Und so treibt er unerkannt sein Unwesen, stiftet Unruhe und sorgt für Unwohlsein. Dabei wartet die Wut im Grunde doch nur darauf, einmal da sein zu dürfen, einmal gefühlt zu werden. Wut und Depression – diese Kombination scheint kein Zufall zu sein.


Was hat Wut mit Depression zu tun?

Man hört hier und da, dass zur Depression auch Wut gehört, aber ist das wirklich so? Eigentlich passt es doch gar nicht zusammen, niedergedrückt, kraftlos, hoffnungslos und gleichzeitig wütend zu sein? Die Wut gehört der allgemeinen Lehrmeinung zufolge zu den Grundgefühlen des Menschen wie Trauer, Angst, Freude, Ekel und Liebe. Sie ist eine sehr starke Emotion. Sie wird unter anderem ausgelöst durch eine als Kränkung oder Zurückweisung empfundene Situation. In der Psychologie wird die Wut nicht gleichgesetzt mit Ärger. Man schreibt ihr im Verhältnis zum Ärger einen deutlich höheren Erregungszustand zu. Das kann wohl jeder gut nachvollziehen.

Die eigene Verletztheit

Wut ist auch nicht etwa dasselbe wie Aggression. Während die Wut ein Gefühl ist, das dazu dient, die eigene Verletztheit anzuzeigen und deutlich zu machen, ist die Aggression darauf gerichtet, andere zu verletzen. Das ist bei der Wut nicht der Fall. Sie will nicht verletzen. Sie ist vor allem an das Gefühl der Ohnmacht gekoppelt. Die Betroffenen fühlen sich hilflos und machtlos. Das macht sie wütend. Die Wut gilt unter uns Menschen nicht gerade als salonfähig. In den meisten Ländern unserer Erde wird sie gesellschaftlich nicht akzeptiert. Sie entspricht vielfach nicht den allgemeinen Standards sozialen Verhaltens.

Trotzdem muss sie für irgendetwas gut sein, sonst gäbe es sie ja nicht? Sie dient dazu, die eigene Verletzung anzuzeigen. Damit hat sie in erster Linie eine Gefahren abwehrende Funktion und schützt auf ihre Weise den menschlichen Körper und die menschliche Seele. Sie kann aber auch ein Mittel sein, den eigenen Willen zur Geltung zu bringen. Wut dient meiner Meinung nach auch der Abgrenzung und damit der Herstellung einer sozialen Ordnung. In jedem Fall mobilisiert sie eine Menge Kraft und versetzt den Menschen so in einen höheren Energiezustand. Aus diesem Grunde kann sich jeder Depressive freuen, wenn er denn in der Lage ist, Wut zu empfinden.

Theorien zur Entstehung

Für die Entstehung dieser Art Erregtheit gibt es im Wesentlichen drei Erklärungsansätze. In der sogenannten Frustrations-Aggressions-Theorie geht man davon aus, dass Wut und Aggression Reaktionen auf Frust sind. Wut ist demnach also eine Art, sich Luft zu machen, sich abzureagieren.

Sigmund Freud ist mit seiner Triebtheorie hingegen der Meinung, dass es einen angeborenen Aggressionstrieb gibt. Er ist davon überzeugt, dass man den keineswegs unterdrücken sollte, weil es ansonsten zur Ausbildung seelischer Störungen kommen könne.

Die dritte Theorie ist die sogenannte Lerntheorie. Nach ihrer Meinung stellt Aggression ein erlerntes Verhalten dar. Ich bin der Meinung, in allen Modellen steckt viel Wahrheit, aber keines beschreibt Wesen und Entstehung von Wut umfassend. Ich denke, sie verweist irgendwie immer auf unerfüllte Bedürfnisse. Das kann der Wunsch nach Anerkennung und Respekt sein, nach Liebe, nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung, nach Gerechtigkeit oder auch Ruhe. Werden meine Bedürfnisse nicht respektiert, erzeugt das Druck bei mir. Die Wut ist dann der Gegendruck in mir. Ob sie ein geeignetes Mittel ist, Bedürfnisse zu befriedigen, darf in Frage gestellt werden und hängt sicher vom Einzelfall ab. Sie aber generell zu verteufeln ist auch der falsche Weg, denke ich., denn sie ist ein Gefühl wie jedes andere. Sie zeigt uns etwas an, will verstanden und angenommen sein.

Was macht mich wütend?

„Voll die blöde Frage!“, denke ich gerade. Wie komme ich nur dazu, mir so eine Frage zu stellen, noch dazu öffentlich. Nein! Das lösche ich wieder weg! Aber genau darum geht es doch bei der Depression, oder? Die eigene Wut nicht anschauen zu wollen. „Da ist nichts! Ich bin nicht wütend!!!!“ Es steckt wohl tief in meinen Knochen, nicht nur in meinen Gehirnwindungen, nein in allen Zellen meines Körpers: „Wut ist nicht gut! Es ist kindlich, wütend zu sein. Man muss seine Wut kontrollieren. Mit Wut erreicht man nichts. Werde jetzt bloß nicht wütend!“ Irgendwie habe ich gelernt, dass sie haben will und irgendwann wollte ich sie selbst nicht mehr haben. Ich habe sie so sehr in mir abgelehnt, bis ich sie selbst nicht mehr spüren konnten. Und ich verstand nicht, dass andere Menschen auf mich wütend sein konnten, wo ich doch sooooo lieb war.

Blind für die eigenen Gefühle

Ich habe das Gespür für meine eigene Wut verloren, aber nach außen hin war sie weiterhin deutlich erkennbar. Mit ihr verhält es sich da so, wie mit allem anderen auch, was wir gerade an uns ablehnen, das aber da ist. Wir können es an uns selbst nicht sehen, dafür aber am Anderen umso deutlicher. Statt es an uns zu bearbeiten, bekämpfen wir den Anderen, finden ihn doof und was weiß ich noch alles. So kompliziert funktionieren Menschen! Kein Wunder, dass wir heute so viele Psychologen brauchen! Wer soll da denn noch durchsteigen?

Während meiner Psychotherapien ist mir eines immer wieder deutlich aufgefallen: Depressive gaben stets an, nicht wütend zu sein und glaubten das auch fest von sich, mich selbst eingeschlossen. Wenn sie ihre Geschichte erzählten, wurde jedem herum klar, dass da eigentlich eine Stinkwut sein müsste und natürlich wurde da auch nachgefragt. „Nein“, hieß es jedes Mal, „ich bin nicht wütend.“

So nun habe ich mich schön um die eigentliche Frage herum laviert. Ich wusste gar nicht, dass ich diese Fähigkeit, die ich an Politikern überhaupt nicht mag, selber habe. Aber eben deshalb mag ich sie ja vermutlich an Politikern nicht. Das hätte mir auch schon früher mal aufgehen können? Sei es drum, hier geht es jetzt nicht um die Kunst des Drum-herum-Redens. Ich stelle mich nun der Frage. Was also macht mich wütend?

Auslöser

Es macht mich wütend, wenn:

  • man mich wie ein kleines Kind behandelt
  • jemand mich benutzt oder ausnutzt
  • sich jemand vordrängelt
  • mich jemand ungerecht behandelt
  • mir jemand etwas weg nimmt
  • man mich nicht ausreden lässt
  • ich belogen oder betrogen werde
  • jemand nicht auf mich gehört hat und ich jetzt deswegen den Nachteil habe
  • man mich nicht ernst nimmt
  • jemand langsam vor mir her fährt, ich aber wegen Gegenverkehrs nicht überholen kann
  • man mich ignoriert
  • jemand auf der Autobahn hinter mir drängelt
  • sich jemand nicht an Absprachen hält
  • jemand seine Schulden bei mir nicht bezahlt
  • ich zu lange irgendwo warten muss (z.B. im Wartezimmer eines Arztes)
  • mich jemand anschreit
  • jemand Geliehenes nicht pünktlich oder beschädigt zurückbringt
  • mich jemand beleidigt
  • jemand unwahre Sachen über mich verbreitet, mich verleumdet
  • ich von etwas oder jemandem genervt bin

Es macht mich manchmal wütend, wenn:

  • ich enttäuscht werde, das heißt, wenn meine Erwartungen nicht erfüllt werden
  • mir jemand im Weg steht
  • ich nicht bekomme, was ich will
  • mich jemand aufhält
  • mir jemand zu nahe kommt

Bei all meinen Auslösern ist es unerheblich, ob die Dinge tatsächlich auch so passieren oder nicht. Allein, dass ich das Gefühl habe, ich werde ausgenutzt, werde wie ein Kind behandelt, etc. reicht aus, die Wut in Gang zu setzen. Sicherlich bin ich so manches Mal auch zu Unrecht wütend.

Gefühle zulassen

Hui, da ist ja ganz schön viel Potential, wie ich sehe. Und dabei musste ich noch nicht einmal tief graben. Vielleicht deshalb, weil ich mir heute meine Wut so allmählich wieder erlaube als etwas, das zu mir gehört, ebenso wie meine Aggression? Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass mich so viel wütend macht. Da war es schon gut, es einmal aufzuschreiben. Wenn ich mir vorstelle, ich habe früher all diese Wut an mir nicht haben wollen und deshalb alles immer schön unterdrückt, frei nach dem Motto: „Ich bin nicht wütend!“ dann bin ich vermutlich wie ein fauchender Dampfkessel durch die Gegend gelaufen, der jeden Moment in die Luft zu fliegen drohte.

Irgendwann hat sich dann all die aufgestaute Wut nach innen gerichtet und hat mich nieder gedrückt = depressiv gemacht. Wut hat enorm viel Kraft, von der ich jedoch nichts mehr spüren konnte. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass häufig unterdrückte Wut krank machen kann, ebenso wie Dauerstress. Mögliche Gesundheitsschäden können sein: Bluthochdruck, erhöhter Cholesterinspiegel, erhöhtes Herzinfarktrisiko und Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems genannt. Na so was? Das habe ich fast alles!

Manche Experten gehen sogar davon aus, dass unterdrückte Wut eine Ursache von Depressionen, Essstörungen und Alkoholismus ist. Wen wundert das jetzt noch? Heute stehe ich eher zu meiner Wut. Ich versuche sie zwar zu kontrollieren anstatt sie frei auszuagieren, aber ich erlaube mir heute, sie zu fühlen, sie zu haben. Ich empfinde sie nicht mehr als etwas Negatives. Sie verleiht mir ein Gefühl von Stärke und Lebenskraft und danach hungert die depressive Seele. Sie sorgt für mich und nicht zuletzt lerne ich mit ihrer Hilfe, dasselbe zu tun. Die Wut ist schon okay – sie darf jetzt sein…

Quellen zu „Wohin mit einer Wut“
Foto: clipdealer.de

depression und Wut

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