Verlassen und depressiv – Warum fühle ich so?
Verlassen zu werden gehört zu den weniger schönen Momenten im Leben eines Menschen. Nicht selten fühlen wir uns dann minderwertig und aussortiert, abgeschoben und ausgegrenzt. Doch ist es nicht der gerade gehende Partner, der dies tut. All diese Gefühle erschaffen wir selbst in uns, unbewusst zumeist. Wir fühlen uns als Opfer, hilflos und wissen nicht mehr weiter für den Moment. Manchmal brechen wir regelrecht zusammen unter der Last all dieser Gefühle.
Sich verlassen fühlen
Als ich mich das erste Mal in in der Psychiatrie aufhielt, weil mein Leben gerade kräftig ins Wanken geraten war, war ich recht erstaunt, wie viele Menschen dort waren. Ich hatte immer so Bilder aus dem Fernsehen im Kopf, mit vergitterten Räumen, in denen vor sich hin fantasierende Menschen sich entweder völlig unkoordiniert im Raum bewegten oder einfach nur wie erstarrt da saßen. Ich hatte ja keine Ahnung! „Haben die Wenigsten!“, würde Jürgen Klopp (Fußballtrainer) sagen, und „…bis sie selbst betroffen sind.“, könnte man hinzufügen. Ich befand mich von Anfang an in bester Gesellschaft, denn viele dieser Menschen waren mit einem ganz ähnlichen Problem zu Gast wie auch ich. Sie hatten ein Problem mit ihrer Beziehung oder wurden sogar verlassen.
Beziehungen – Das Salz in der Suppe
Beziehungen sind es, die mich als soziales Wesen Mensch im Leben halten. Sie geben mir einen Platz, geben mir Rückhalt und eine Bedeutung, ja machen mich am Ende zu dem, was ich bin. Ohne die Beziehung zu anderen Menschen könnte ich mich nur sehr eingeschränkt wahrnehmen. Ich merke das hin und wieder bei Personen, die sehr lange allein gelebt haben. Es kann dann sein, dass sie ein wenig schrullig geworden sind. Beziehungen sind das Salz in der Suppe des Lebens. In eine Beziehung wurde ich hineingeboren, in ihr wuchs ich auf und knüpfte fortan ständig neue Beziehungen hinzu. Schon im Buddelkasten fing ich damit an. Ich gucke mir die Menschen um mich herum an und prüfe, wer zu mir passt, mit wem ich gern zusammen bin oder sein würde und arbeite auf diese Weise ein Leben lang an meinem Netz der Beziehungen.
Beziehungen sind prägend
Beziehungen gibt es auf allen Ebenen. Die wichtigste Beziehung im Leben eines jeden Menschen ist sicher die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern, die Beziehung zur Mutter und zum Vater. Es folgen die Beziehung zu den Geschwistern und den Großeltern sowie anderen nahe stehenden Personen. All diese Beziehungen prägen maßgeblich die Psyche eines Menschen und legen den Grundstein dafür, wie gut er später mit sich selbst und zu anderen in Beziehung treten kann. Wir haben Beziehungen zu unseren Nachbarn, zu Freunden und Arbeitskollegen, zu Menschen aus dem Verein, der Kirche oder dem Fitnesscenter. Mit allen Menschen, denen wir öfter begegnen, stehen wir auf die eine oder andere Art in Beziehung.
Mann und Frau in Beziehung
Neben der besonders wichtigen Beziehung des Kindes zu seinen Eltern kommen später noch andere besonders wichtige Beziehungen hinzu. Immer dann, wenn Mann und Frau in Beziehung treten und ein Funke überspringt, sprechen wir von einer Liebesbeziehung. Idealerweise ist dies dann auch irgendwann die Basis für eine gute Partnerschaft oder der Grundstein eines gesunden Familienlebens. Wenn ich eine mir gefallende Frau gefunden haben, fühle ich mich überglücklich und weiß es ganz genau: Mit diesem Menschen will ich mein Leben teilen! Leider wird dieser Wunsch nicht immer wahr. Leider zerbrechen diese himmelblauen Träume auch hier und da, zerplatzen wie Seifenblasen, nachdem sie ein Weilchen durch mein Leben getanzt waren…
Der Sturz ins Bodenlose
Besonders, wenn zwei Menschen lange miteinander in Beziehung standen, kann dieser Bruch sehr schmerzhaft sein. Hatten sie doch ihr ganzes Leben auf den Partner ausgerichtet und stehen nun plötzlich allein da. Wie durch einen Erdrutsch verlieren sie den Boden unter den Füßen, verlieren jeglichen Halt und stürzen dabei nicht selten ins sprichwörtliche Bodenlose. Und eben diese Menschen trifft man dann in der Psychiatrie wieder, dort wo auch ich mich einst unerwartet fand, aus eben diesem Grund, verlassen worden zu sein. Auch ich hatte den Boden unter den Füßen verloren.
Schnell neu verliebt
Ich fühlte mich verlassen, verraten und verkauft, vom Leben und den Menschen betrogen. Am Ende blieb mir nicht einmal mehr die Kraft, weiter leben zu wollen, als ich glaubte alles verloren zu haben. Ich fühlte mich schlecht, sehr schlecht. Und wenn ich eines unterschwellig lernte in dieser Zeit, dann war es die Botschaft: „Als ich noch eine Partnerin hatte, da ging es mir besser.“ Oft versuchen Menschen, ohne dass ihnen das bewusst wäre, noch in der Psychiatrie die gerade entstandene Lücke wieder zu schließen. Sie treffen dort auf Personen, die ein ähnliches Schicksal teilen, fühlen sich verstanden und angenommen und manchmal verlieben sie sich gleich wieder in einen eben dieser Menschen. Glaubt man der Statistik, halten diese Beziehungen nicht allzu lange. Wie auch, bei den vielen Verletztheiten?
Verlust und Depression
Der Verlust durch Trennung oder Tod ist tatsächlich ein häufiger Auslöser für die Depression. Auch bei mir war dies so. Und so setzte sich auch in meinem Kopf die Idee fest, dass ich nur wieder für eine verlässliche Beziehung sorgen müsse und die Depressionen hätten ein Ende. Würde ich nur die Richtige finden, müsste ich ja auch keine Trennungsangst mehr haben, würde ich mich nicht mehr hilflos fühlen und wäre dann auch nicht mehr depressiv. Ich suchte die Lösung meines Problems im Außen. Das ist ja auch verlockend und irgendwie logisch, solange man die Ursachen der Depression im Außen vermutet. Was zu solch einem Zeitpunkt die wenigsten wissen ist, das dem mitnichten so geschieht. Alles was uns betrifft, alle Gedanken, die wir denken, alle Gefühle die wir fühlen, alle Eindrücke, die wir sammeln, alle Wahrheiten, die wir glauben, all dies erschaffen wir in uns selbst.
Halb voll oder halb leer
In jeder Sekunde unseres Lebens erschaffen wir genau die Welt, die wir gerade wahrnehmen. Alles Illusion? Zum Teil vielleicht, aber doch auch sehr real. Es ist unser Leben. Und es gibt nur dieses eine. Es ist das, was wir wahrnehmen aufgrund der Art, wie wir es wahrnehmen. Wir alle kennen das Beispiel mit dem halb gefüllten Glas Wasser. Grund zur Freude oder Besorgnis? Grund zur Genugtuung oder eher ein Ärgernis? Die Dinge um uns herum und auch die Situationen sind immer neutral. Sie sind weder gut noch schlecht. Sie sind da. Erst durch unsere Anschauung bekommen sie eine Wertung, eine Bewertung. Und erst durch unsere Bewertung bekommen sie eine Bedeutung für unser Leben. Wie die ausfällt, ist im Einzelfall so verschieden wie wir Menschen es auch sind. Und doch ist es dasselbe Ding, die gleiche Situation.
Dem Leben vertrauen
Wenn wir uns trennen, könnten wir beispielsweise ja auch sagen: „Was für ein Glück, dass ich verlassen wurde! Nun kann ich mich noch einmal neu orientieren!“ oder „Das Leben hat mir nochmal eine Chance gegeben!“ oder “ Es muss einen Vorteil für mich bedeuten, dass wir uns trennen, sonst wäre es nicht soweit gekommen.“ Oft erkennen ich dies tatsächlich aber erst viel später, mit einigen Jahren Abstand und weiß dann zu schätzen, dass mein Leben so und nicht anders verlief. Alles hat seinen Sinn. Alles im Leben will uns etwas lehren. Es zu bekämpfen, zu verleugnen, abzulehnen, heißt sich selbst zu bekämpfen, zu verleugnen und abzulehnen.
Wenn die Brücke fehlt
Das Leben meint es gut mit uns. Wenn wir dies erkennen, glauben wir es auch und haben Vertrauen. Wenn wir dies aber nicht mehr erkennen, weil das Vertrauen ins Leben verloren ging, fehlt uns die Brücke über den Fluss schmerzhafter Ereignisse. Wir bleiben am Ufer stehen und schauen ins Wasser, schauen zurück und schauen ins Wasser…
Bin ich das Opfer?
Ich fühle mich als Opfer, aber ich bin es nicht, jedenfalls nicht ausschließlich. Auch ohne Brücke kann ich diesen Fluss überqueren. Ich kann schwimmen. Das ist zwar ungleich mühsamer, als über eine gut befestigte Brücke aus Vertrauen zu schlendern, aber es ist eine Möglichkeit. Zu schwimmen bedeutet, mich auf die eigenen Ressourcen zu berufen, mir der eigenen Kraft bewusst zu werden und dessen, dass ich alles bei mir trage, was ich brauche, um diesen Fluss zu passieren. Ich kann schwimmen. Sobald ich mir dessen klar werde, beginne ich wieder zu vertrauen. Der Beginn allen Vertrauens ist das Selbstvertrauen. Ich werde diesen Fluss überqueren.
Ich komme rüber
Vielleicht komme ich nicht auf kürzestem Weg ans andere Ufer, weil die Strömung doch sehr stark ist? Es ist nicht so wichtig, wo ich ankomme. Es ist wichtig, dass ich die Reise antrete. Ich kann schwimmen. Immerhin kann ich zum Beispiel die Strömung für mich nutzen und darauf vertrauen, dass ich ankommen werde. Das spart Kraft. Das Leben geht weiter. Mein Weg geht weiter und endet eben nicht am Horizont.
Weil ich vergaß
Ich bin nicht depressiv geworden, weil jemand in meinem Leben eine Brücke eingerissen hat. Ich bin depressiv geworden, weil ich vergaß, dass ich schwimmen kann. Eine Partnerschaft kann sicher etwas sehr Schönes, Sinn stiftendes und Erfüllendes sein, aber sie sollte mich nicht zu einhundert Prozent ausfüllen. Dann nämlich muss ich mich auch nicht so leer fühlen, wenn es mal nicht klappt in der Beziehung…
Quellen zu „Verlassen und depressiv – Beziehung und Depression“
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