Denken oder Fühlen – Was ist wichtiger

Denken und Fühlen

Sollte ich mehr denken oder besser mehr fühlen?

Was ist das eigentlich immer für ein Durcheinander mit meinen Gedanken und Gefühlen? Denke ich oder fühle ich oder denke ich zu fühlen? Glaube ich oder denke ich zu glauben? Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Denken und Fühlen und warum reicht es nicht einfach aus, zu denken und besonnen zu handeln? Und dann auch immer diese Widersprüche! Einmal fühle ich so. Ein anderes Mal dann ganz anders oder zwei sich widersprechende Gefühle sind gleichzeitig da. Kann ich meinen Gefühlen überhaupt trauen?


Ego cogito – ergo sum

„Ich denke, also bin ich!“, heißt es bei Descartes, einem französischen Philosophen, Mathematiker und Naturwissenschaftler. Früher glaubte ich das. Dieser Satz schien mir schlüssig. Mittels des Denkens erhebe ich mich als Mensch über die reine Materie hinaus, glaubte ich, und so hielt ich die menschliche Fähigkeit zu denken für eine der größten Würfe der Evolution überhaupt. In der Schule lernte ich, dass dem Menschen die Fähigkeit des Denkens und des freien Willens geschenkt wurde. eine Gabe, wie sie die Tiere nicht vorweisen können. Und so passte immer alles schön zusammen. Ich dachte und dachte und so wurde ich zum Denker. Denken und Fühlen standen für mich in keinem nennenswerten Zusammenhang.

Man sagte mir nach, dass ich in der Lage sei, scharf zu denken, zu analysieren, zu schlussfolgern, logisch zu denken, und so war es auch. Ich hatte meine Freude an Wissenschaft und war stolz darauf, etwas mit meinem Verstand erfassen zu können. In der Schule hatte ich deshalb kaum Schwierigkeiten. Es fiel mir leicht, Zusammenhänge zu begreifen und so blieb das mein Leben lang. Das Denken wurde zu einer Art Leistungssport für mich. Es verschaffte mir Anerkennung und hob so meinen Selbstwert. Das Denken habe ich gelernt.

Gefühle sind nichts für Männer

Leider wuchs ich in einer Zeit auf, da waren Gefühle noch, ich zitiere: „Weibersache“. Man verzeih mir an dieser Stelle den Ausdruck, aber er ist auch ein Spiegel seiner Zeit. Geboren bin ich 1960 in der ehemaligen DDR, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Großen Krieges, fünfzehn Jahre nachdem Deutschland in Schutt und Asche lag.  Das war eine Zeit, in der damals viele Familien ohne Väter und Großväter waren. Erst heute vermag ich die Dimension zu begreifen. Als Kind gab es den Krieg nicht für mich. Er war weit weg, unerreichbar weit von mir entfernt lag er irgendwo in der Vergangenheit. Erst heute weiß ich, wie verdammt wenig Zeit fünfzehn Jahre ist.

Hinterlassenschaft des Krieges

Die verbliebenen Männer, die der Krieg übrig ließ,  versuchten der damaligen Auffassung vom „Mann sein“ bestmöglich zu folgen. „Hart wie Krupp-Stahl, zäh wie Leder…“ Deutschland war inzwischen geprägt von zwei Weltkriegen. „Gute, tapfere Männer“ gingen an die Front und kämpften für ihr Vaterland. so hieß es. Diejenigen die dafür „zu feige“ waren, hatten ihr Recht auf ein Leben in Freiheit verwirkt. Es war kein Platz für Feiglinge, wie man sie nannte. Es war eine Zeit der Helden, der tapferen und mutigen Männer…

Was für eine verlogene, grauenhafte und jammervolle Zeit! Ich sehe die Männer heimlich winseln und weinen in den Schützengräben und Panzern, und rieche förmlich ihre Angst. Aber das durfte niemand wissen, denn Feigheit vor dem Feind wurde mit dem Tode bestraft. Was wurde den Menschen durch den Propagandaapparat nur vorgemacht und was machten die Menschen sich selbst vor? Doch jene Zeit war so. Andere Wertvorstellungen existierten wohl auch, aber nicht hauptsächlich. Es war also eine Zeit, in der ein Mann ein Mann zu sein hatte. Und in so einer Zeit wuchs ich auf.

Das Männerbild

Ich war der Sohn eines Maurers, eines Familienvaters, der seinen eigenen Vater kaum kennen gelernt hatte. Er fiel kurz vor Kriegsende an der Ostfront und zählte somit zu den vielen, die nicht wieder heimkehrten. Mein Vater hätte also kaum ein authentisches Vaterbild entwickeln können und so nahm er sich in Ermangelung eines solchen wohl die gängige Meinung zum Ideal. Und das hieß: Ein Junge hat hart zu sein. Ein Junge weint nicht. Er hat sauber und ordentlich zu sein. Ein Junge muss mutig sein und stark und sportlich. Klug muss ein Junge nicht unbedingt sein, aber wenn er es war, schadete es auch nicht, Hauptsache, die anderen Eigenschaften waren alle vorhanden.

Die Anerkennung meines Vaters

Natürlich wollte ich sie haben, die Anerkennung meines Vaters. Und natürlich bemühte ich mich genau so zu sein, wie ich glaubte, dass er mich haben wollte. Doch so war ich leider nicht. Ich konnte das vorherrschende einfach Klischee nicht erfüllen. Ich war ein sensibler Junge, nicht besonders sportlich, nicht besonders mutig, ich spielte mit Mädchen genauso gern wie mit Jungs. Fußball mochte ich eher nicht, meldete mich aber dennoch im Fußballverein an. Ich konnte tun, was ich wollte, der Geruch des eigentlichen Benno kam immer wieder durch, was mir die so sehr begehrte Anerkennung meines Vaters zumeist verwehrte.

Mannwerdung

Missbilligung war das, was ich an ihrer Stelle bekam, Geringschätzung und das ungute Gefühl, immer wieder zu enttäuschen. Und so verfeinerte ich meine Strategien, jemand anders zu sein, zumindest dies vorzugeben. Später ging ich freiwillig auf dem Bau arbeiten, lernte betonieren, mauern und putzen und hoffte so zu einem richtigen Mann zu werden. Als Vierzehnjähriger schleppte ich Zentnersäcke auf meinem Rücken, denn ich wollte ja ein Mann sein. Ich wusste nicht einmal, ob dies meinem Vater gefiel, inzwischen gefiel es mir, denn ich glaubte, es ließe mich männlich werden. Irgendwann ging das Bild, wie ich sein  wollte, fließend in das Bild über, wie ich glaubte, zu sein. Mehr und mehr verließ ich mich so und bemerkte es nicht einmal.

Gefühle verbergen

Ich habe also gelernt, zu denken und zu arbeiten, fleißig zu sein und zuverlässig. Ich habe aber nicht gelernt, Gefühle zuzulassen, zu fühlen, Gefühle auszuhalten, geschweige denn Gefühle zu zeigen. Selbst wenn mein Vater mich schlug, wollte ich ein richtiger Junge sein und nicht schreien. Aber das hielt ich nicht durch, denn derart Verhalten machte ihn nur noch wütender und er pflegte seine Tracht Prügel jeweils erst dann zu beenden, wenn ich laut und erbärmlich schrie. Also schrie ich irgendwann. Ich hatte ja gelernt zu denken. Aber was ich fühlte war Angst und Verachtung. Weder das eine noch das andere hätte ich zeigen dürfen.

Denken und fühlen

Ich weiß nicht, ob es Descartes gefallen würde, aber ich möchte ihm heute widersprechen. Nicht weil, ich denken kann, bin ich. Ich bin, weil ich denken und fühlen kann. Ich erlebe mich als Mensch, wenn ich fühlen kann. Der brillanteste Denker, zeigt er kein Herz und kein Mitgefühl, wird kalt und abstoßend auf seine Mitmenschen wirken. Mit so einem Kerl will eher niemand zu tun haben. Sind es nicht die Gefühle, die uns zum Menschen erheben, uns menschlich machen? Ist nicht gerade  die Fähigkeit, Mitgefühl zu haben, etwas für einen anderen Menschen empfinden zu können ebenso, wie wütend, traurig oder ängstlich zu sein, besonders menschlich?

Mit dem Herzen verstehen

Ich habe Verständnis für jemanden, wenn ich in etwa nachempfinden kann, weshalb er so oder so denkt, fühlt oder handelt. Nur was ich mit meinem Herzen verstanden habe, das habe ich wirklich verstanden. Viele Jahre meines Lebens stellte ich das Denken in den Mittelpunkt. Erst meine Depression brachte mir näher, dass ich mehr bin als ein Denkapparat. Es war ein langer Weg, der auch heute noch nicht zu Ende beschritten ist. Zu erkennen, wie wichtig Gefühle für mein Leben sind, war aber ei wichtiger Schritt für mich auf dem Weg zu mir selbst.

Beherrschung

Ich glaubte lange Zeit, nur schöne Gefühle dürften sein, alle anderen Gefühle müsste ich beherrschen, müsste mich beherrschen. Aber in Wahrheit haben diese Gefühle mich beherrscht. All die Gefühle, die ich nicht an mir haben wollte, haben mich beherrscht ein Leben lang, wie Angst, Wut, Hass, Verzweiflung, Trauer, Sehnsucht… Ich habe einen großen Teil meiner selbst abgelehnt und so habe ich mich abgelehnt. Und was ist noch heute meine größte Angst? Es ist die Angst, abgelehnt zu werden, nicht dazu zu gehören. Na, wen wundert das jetzt?

Selbstliebe üben

Leider bedurfte es erst einer handfesten Lebenskrise, um die alten Denk- und Verhaltensmuster in Frage stellen zu können. Heute bin ich aber auch irgendwo dankbar dafür, dass es so kam. Erst die Depression hat mir ein Stück weit die Augen für mich selbst geöffnet. Je mehr ich Ja zu mir selbst sagen kann, je mehr ich anerkennen kann, dass es gut ist, wie ich bin, umso eher kann die Depression auch wieder gehen. Ich kann mir die Anerkennung selbst geben kann, die der richtige Benno von seinem Vater nie wirklich bekam, Ich bin dabei, meine Lektion zu lernen.

Bedauerlich bleibt, dass ich so alt werden musste, bevor mir dies möglich wurde. Aber wie heißt es so treffend: Besser spät als nie! Ich habe schreckliche Tage und Wochen erlebt in den Jahren meiner Depression und nicht verstanden, was da geschieht. Heute verstehe ich viel besser und seit ich verstehe, hat die Depression ihren Schrecken für mich fast verloren. Manch Medizin ist eben bitter! Aber wenn sie doch hilft, die Augen zu öffnen, ist sie dann am Ende nicht doch gut für mich? In einem Verließ findet man den Ausgang nicht mit geschlossenen Augen…

Quellen zu „Denken und Fühlen“

Foto: Denise / pixelio.de

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