Das Bedürfnis nach Abhängigkeit und Autonomie
Es gibt, neben anderen einschlägig beschriebenen Grundbedürfnissen, zwei elementare Bedürfnisse, die jeder Mensch an sich selbst beobachten kann. Gerade aber für seelisch Kranke sind diese beiden Bedürfnisse von besonderer Bedeutung. Da gibt es das Bedürfnis nach Abhängigkeit und es gibt das Bedürfnis nach Autonomie. Auch wenn es widersprüchlich klingen mag, ergänzen sich diese beiden Grundbedürfnisse doch sehr und spielen eine wichtige Rolle im gesamten Lebensverlauf. Die anfänglich gegebene völlige Abhängigkeit des kleinen Kindes mindert sich im Laufe seiner Entwicklung mehr und mehr und führt im günstigen Verlauf irgendwann zur völligen Selbstständigkeit, zur Autonomie. Gäbe es das Grundbedürfnis nach Autonomie nicht, wären wir vermutlich ein Leben lang abhängig vom Verhalten anderer Menschen…
Grundbedürfnis nach Abhängigkeit
Das Grundbedürfnis nach Abhängigkeit ist eines der ältesten Bedürfnisse der Menschen überhaupt. Wir kommen quasi damit schon zur Welt und manifestieren und entwickeln dieses Bedürfnis vor allem im ersten Lebensjahr. Die Art und Weise wie wir als Säugling die ersten Monate unseres Daseins erleben, ist somit maßgeblich prägend für unser späteres Bindungsverhalten.
In der ersten Phase der psychosozialen Entwicklung, man spricht hier auch von der oralen Phase, ist von entscheidender Bedeutung, wie der Säugling insbesondere seine Abhängigkeit erlebt. Und abhängig ist er nun einmal ganz klar von seinen jeweiligen Bezugspersonen. Werden seine Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme und Schutz, wird sein Bedürfnis nach menschlicher Nähe ausreichend befriedigt? Oder erlebt er in dieser frühen Phase seines Daseins schon den Mangel an Zuwendung? Ist das Überleben aus seiner Sicht gesichert oder steht es in Frage? Werden seine Bedürfnisse ernst genommen oder ist er mitunter sich selbst überlassen? Kann er den Menschen um sich herum vertrauen? Sind sie verlässlich? Sorgen sie gut für ihn?
Die ersten Lebensjahre
Der Verlauf des ersten Lebensjahres entscheidet darüber, ob er mit einem tragfähigen Urvertrauen ins Leben gehen kann oder nicht. Und dieser Aspekt hat dann tiefgreifende Auswirkungen auf die späteren Grundzüge seiner Persönlichkeit und die Ausformung seiner zwischenmenschlichen Beziehungen.
Verläuft diese erste wichtige Phase im Leben eines Menschen nicht optimal, können sich später verschiedene seelische Schwierigkeiten manifestieren. Dazu zählen insbesondere:
- mangelndes Vertrauen
- Nähe-Distanz-Probleme
- depressiver Charakter
- Abhängigkeit/Sucht
- psychosomatische Leiden
- sexuelle Störungen
- Identitätsstörungen
- Bindungsängste
Jedes Kind entwickelt dann im weiteren Verlauf unbewusst Strategien, seine Grundbedürfnisse so gut als möglich zu befriedigen. Zum Beispiel kann es sein, dass es Eigenschaften an sich selbst ablehnt, von denen es glaubt, dass seine Eltern sie nicht an ihm mögen. Derartige Kinder wirken oftmals reifer als ihre Altersgenossen und werden hierfür auch gelobt. Dies verstärkt dann noch die Abspaltung kindlicher Anteile. Es kann sein, dass es besonders früh Verantwortung übernimmt für andere, für Mama und Papa und für Erhaltung des Familienfriedens. Möglicherweise wird es immer wieder dafür gelobt, besonders hilfsbereit und bescheiden zu sein?
Schutzmäntel über der Seele
Es kann also sein, dass es sich ganz besonders anstrengt, um seinen Eltern zu gefallen. Um Aufmerksamkeit zu erhalten, stellt es alles mögliche an, wird vielleicht zum Spaßvogel der Familie und später zum Klassenclown. Indes vermag niemand die Tränen auf seiner Seele zu sehen. Es geht nur noch darum, um jeden Preis gemocht zu werden. Wenn dieses Gefühl, gemocht zu werden, auch einst überlebensnotwendig war, hat es sich später doch längst in einen Automatismus verwandelt, der nicht mehr bewusst wahr genommen werden kann. Eine Charakterstruktur hat sich über den eigentlichen Charakter gelegt. Ein Schutzmantel. Depressive Menschen haben Dutzende solcher Schutzmäntel. Sie sind Meister in der Anpassung, im Verdrängen und im Sich-Verbiegen.
Die Angst vor der Ich-Werdung
Es ist ihnen über die Maßen wichtig, gemocht zu werden und so strengen sie sich an, geben alles, sind zuverlässig, übernehmen Verantwortung, helfen wo sie können. Sie sind so sehr damit beschäftigt, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, dass sie es mit der Zeit verlernen, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Fritz Riemann beschreibt in seinem Buch “Grundformen der Angst” die größte Angst des Depressiven als die Angst vor der Ich-Werdung. Hinter dieser großen Angst ist ganz deutlich die Angst vor Einsamkeit erkennbar.
Der depressive Mensch glaubt, dass er nicht gemocht wird, wenn man erst heraus findet, wie er wirklich ist. Folglich neigt er in seinem übergroßen Verlangen nach Nähe dazu, diese Nähe auch unbedingt herstellen zu wollen. Die tut er selbst dann, wenn sein Streben nach Bescheidenheit, Mitgefühl, Mitleid und Selbstlosigkeit über alle Maßen zu seiner eigenen Unterordnung führt. Das geht solange gut wie es gut geht. Irgendwann freilich kommt für die meisten der Tag, an dem die Wahrheit ans Licht will, der Tag, an dem die Lebenslüge offenbar wird. Ein schmerzlicher Tag…
Grundbedürfnis nach Autonomie
Das Bedürfnis nach Autonomie entwickelt sich ebenfalls schon im frühen Kindesalter. Man geht davon aus, dass dies in der sogenannten analen Phase stattfindet, etwa im Alter von 2-3 Jahren. Das ist der Zeitraum, indem sich das Kind erstmals als Individuum wahrnimmt, das erste Mal das Wort „Ich“ benutzt. Autonomiebedürfnisse sind wichtig, um lebensfähig zu werden. Auf ihrer Grundlage entdecken wir die Welt um uns herum und machen sie uns nutzbar. Dieses Grundbedürfnis ermöglicht die Loslösung von den Eltern und das eigenverantwortliche Agieren. Folgt auf die Forderung nach Autonomie des Kindes die Ablehnung durch die Eltern oder sogar der Verlust von Bindung, kann dies im Extremfall zur Aufgabe des Strebens nach Selbstbestimmtheit führen. Diese Menschen stellen sich überaus gern in den Dienst Anderer und verlieren oftmals völlig den Bezug zu ihrem eigenen dringenden Bedürfnis nach Autonomie.
Autonomie versus Abhängigkeit
Das Grundbedürfnis nach Autonomie steht dem Grundbedürfnis nach Abhängigkeit, also dem Bedürfnis nach Beziehung und Bindung direkt gegenüber. Nur ein gutes Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen ermöglicht eine seelische Gesundheit. Wir Menschen sind nun einmal soziale Wesen. Es ist gut für uns, wenn wir uns auf andere Menschen einlassen können. Wir sind dann erfolgreicher und glücklicher im Leben. Gute Beziehungen machen uns glücklich. Aber wie sooft im Leben kommt es auch hier auf das rechte Maß an, auf Ausgewogenheit. Ein Zuviel an Autonomie führt in die Einsamkeit, ein Zuwenig in die Abhängigkeit. Beide Zustände werden in der Regel als leidvoll erlebt.
Der immerfort Bindungssuchende schränkt womöglich seine Unabhängigkeit über Gebühr ein und tut dies auf Kosten seines Bedürfnisses nach Zugehörigkeit und Geborgenheit. Ein derartiges Verhalten kann jedoch schnell in die Unselbstständigkeit führen. Die Verantwortung für das eigene Leben wird dann an andere abgegeben mit der Folge, sich in zahlreichen Lebenssituationen als bedürftiges Opfer erleben zu müssen.
Im Menschen sind also beide Grundbedürfnisse als Gegensätze angelegt: Geborgenheit und Selbstverwirklichung, Bindungsverlangen und das Steben nach Autonomie. Beides wird gebraucht, die Nähe des Anderen und das Ruhen in sich selbst. Beide Kräfte wirken ausgleichend aufeinander. Ein guter Punkt wird irgendwo in der Mitte der Skala zu finden sein. Ein Leben an oder in der Nähe der äußeren Pole, der Extreme hingegen, wird anstrengend sein und als eher leidvoll erlebt werden müssen.
Fazit zu Autonomie versus Abhängigkeit
Jetzt könnte man meinen: „Okay, ich hatte eine ungünstige Kindheit. Das erklärt meine Schwierigkeiten von heute. Das kann ich verstehen. Das erklärt auch mein Gefühl von Ohnmacht. Daran kann ich nun einmal nichts ändern!“ Und in der Tat – an der Vergangenheit können wir nichts ändern. Sie war wie sie war. Wichtig ist jedoch zu wissen, dass das menschliche Gehirn kein festgefügter Klotz ist. Die Hirnforscher sprechen in diesem Zusammenhang von Neuroplastizität und beschreiben damit die Fähigkeit des Gehirns zur Umstrukturierung. Unter neuronaler Plastizität versteht man also die Eigenart von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen, sich zwecks Optimierung laufender Prozesse in ihrer Anatomie und Funktion zu verändern. (Quelle: Wikipedia)
Sichtweise ändern
Wir müssen nicht lebenslang Opfer ungünstiger Umstände sein. Heute können wir, im Gegensatz zur Situation unserer Kindheit, selbst Umstände ändern, können die Bedingungen ändern, unter denen wir leben. Oftmals findet diese Veränderung schon allein dadurch statt, wenn wir zu anderen Sichtweisen auf das Leben im Allgemeinen und spezielle Situationen und Gegebenheiten im Besonderen kommen können. Genau hier kann eine Psychotherapie hilfreich ansetzen, den Blick einmal zu wenden und den Fokus wieder auf die Möglichkeiten anstatt auf die Defizite zu legen. Und die gute Nachricht ist: Eine solche Veränderung ist bis ins hohe Alter hinein möglich.
Wenn man sich selbst wieder mehr zulässt, wenn man die Angst vor der Ich-Werdung schrittweise ablegt und erkennt, wie wunderbar man einst geschaffen wurde, dann ist es auch gar nicht mehr so sehr wichtig, von den anderen gemocht zu werden. Dann nämlich ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich selbst mögen, wo mein Selbstbewusstsein gesunden kann. Und möglicherweise entdecken dann auch die Menschen um mich herum all diese wunderbaren Eigenschaften, von denen ich glaubte, dass man sie hässlich fände? Sie entdecken sie, weil ich erst jetzt bereit bin, mich zu zeigen.
Angst vor Ablehnung
Und die, die das nicht können? Was ist mit denen, die sich möglicherweise von mir abwenden? Das ist schließlich die größte Befürchtung des Depressiven. Ich denke, dass diese Menschen mich ohnehin nicht sonderlich mochten. Womöglich mochten sie hauptsächlich das, was ich ihnen als Bild von mir vorspielte. Ihnen ging es vermutlich nie um mich. Für sie war ich nur eine willkommene Projektionsfläche ihrer eigenen Unzulänglichkeiten und Vorlieben. Ich denke, ich werde nicht ärmer ohne sie, eher sogar noch reicher…
„Die Wissenschaft erlernst du mit Hilfe der Schriften, die Kunst durch Übung, aber die Entfremdung kommt dir durch Gesellschaft zu.“ Rumi
Du hast dich auch zu weit entfernt von dir selbst? Dann kehre heute um und begrüße dein wahres Ich! Irgendwo in dir wartet es in Form eines Kindes schon seit Ewigkeiten auf diesen Tag…
Quellen zu „Grundbedürfnisse nach Abhängigkeit und Autonomie“
Foto: pixabay.com Wikipedia